Dr. Med. Evelyn Mauch: Mayday! Mayday!

Text: Dr. Med. Evelyn Mauch, MHBA

Wie das Gehirn Vertrauen verarbeitet - Dr. med. Evelyn Mauch, MHBA
Ladies Drive Magazine
Wieso das Gehirn und unser Körper bei Stress die Kindness verlieren.

Klaren Blickes gehen wir voran, ähnlich einem Samurai – unerschrocken, fokussiert, klar: Alpha-Modus im Grossformat. Damit das Schwert der Entscheidungen treffsicher landen kann, begutachtet der präfrontale Kortex die gegebene Situation von allen Seiten und verhindert impulsive Übersprungshandlungen. Da die Hirnrinde ein Teamplayer ist, braucht es für die Entscheidungsfindung auch unseren Gedächtnis-Experten, den Hippocampus, sowie die Wächterin der Emotionen, die Amygdala, den Mandelkern. Diese zwei Gehirnstrukturen sind essenziell für die fundierte Entscheidung: Zum einen brauchen wir den Erfahrungsabgleich und zum anderen die emotionale Begutachtung der Situation.

Einer Gefahrenlage angepasstes, rasches rationales Handeln ist trainierbar: Zum Beispiel in der Notfallmedizin greifen Rettungssanitäter und Notärzte in der Versorgung von Patienten auf einen fundierten Schatz an medizinischem Wissen sowie evidenzbasierten Leitlinien zurück. Die Ausbildung im Rettungsdienst beinhaltet profundes medizinisches Wissen sowie das repetitive, praktische Üben von Rettungseinsätzen beispielsweise im Rollenspiel. Nachdem der Notfallversorgungs-Grundstock gelegt wurde, schliessen sich praktische Einsätze an, je nach Kompetenz mit wachsendem Verantwortungsbereich.

Gleichermassen obligat strukturiert aufgebaut ist das Erlernen der Entscheidungskompetenz beispielsweise im Offiziersbereich. In einem militärischen Kontext müssen Entscheidungen rasch getroffen werden, die mehrere Gefahrensituationen gleichzeitig berücksichtigen und einen grossen Einfluss möglicherweise auf eine ganze Mannschaft oder Nation mit sich ziehen. Dies ist trainierbar – durch ständiges Steigern des Druckes, Vergrössern des Verantwortungsbereiches und regelhaftes Rekapitulieren und Nachbesprechen der getroffenen Entscheidung. So wird eine wachsende Bibliothek an Erfahrungsschätzen angelegt.

Alarm, Alarm: Eine geliebte Person, ein Angehöriger, ein Freund oder auch nur ein unbekannter Mitmensch ruft um Hilfe – wir reagieren gefühlt glasklar wie im Autopiloten. Weinen, hysterisches Agieren, Herumtigern wären fehl am Platz und nicht in unserem evolutionären Konzept vorgesehen. Wenn man die Situation Revue passieren lässt, sind wir häufig erstaunt, was für ungeahnte Kräfte in uns frei werden können. In Notsituationen schlägt unser Mandelkern Alarm, schreit dem Hypothalamus, dem Zwischenhirn, „Mayday! Mayday!“ entgegen, der in der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse, den Notfall-Knopf drückt, woraufhin wir uns evolutionsbedingt rasend schnell den Umhang des sympathischen Nervensystems umwerfen; dieser hüllt uns in eine Wolke von Adre­nalin und Noradrenalin. Die Nebenniere zieht sich ebenfalls den Blauhelm an und schmeisst Leucht­raketen in Form von Kortisol und Adrenalin in den Körper, woraufhin der gesamte Organismus ausrückt. Diese Botenstoffe erhöhen unter anderem den zere­bralen Blutfluss sowie die Verfügbarkeit von Sauerstoff und Glukose, was uns zur mentalen Supermacht mit Muskelkraft wie He-Man mutieren lässt. Dieser im Fachjargon als Kampf- oder Flucht-Reaktion beschriebene Prozess lässt uns emotionsarm reagieren. Insbesondere wenn es um die Hilfeleistung für geliebte Personen geht, erstaunt uns oft die eigene Gefühlsneutralität und Handlungsklarheit in der retrospektiven Analyse und Verarbeitung einer Notsituation. Dies ist durch den notwendigen Mechanismus der Fight-or-Flight-Reaktion begründet, zusätzlich könnte dies auch im Zusammenhang mit dem als Kuschelhormon bezeichneten Botenstoff Oxytocin stehen. Dieser Neurotransmitter ist ursächlich für die Aufmerksamkeit der Eltern, die wie eine Löwenmutter das Junge mit wachsamem Blick und allzeit gegebener Kampfbereitschaft beschützen. Dieses Bindungshormon steigert darüber hinaus die Empathie, sodass die Emotionen und das Wohlbefinden vom Kind rasch – ohne Worte – von den Eltern erfasst werden. Zusätzlich reduziert Oxytocin den Stresslevel, sodass wir bei drohender Gefahr eventuell dadurch rational klar geliebte Menschen aus Notsituationen befreien können.

Circa 20.000 Entscheidungen treffen wir jeden Tag – die meisten davon unbewusst –, eine riesige Leistung von unserem Körper und Geist.

Tagtäglich treffen wir die bedeutendste Entscheidung für uns – grösstenteils unbewusst, zu einem marginalen Teil willentlich –, das grosse Ja zum Leben.


Veröffentlicht am April 05, 2024
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