Die steigende Relevanz der Diversitäts-Thematik in unserer Gesellschaft zeigt sich auch bei der Zunahme der unterschiedlichen Typen von Dummys, die bei Tests zum Einsatz kommen. Doch erst seit 2023 werden auch Dummys eingesetzt, die der weiblichen Körperanatomie nachempfunden sind. Mercedes-Benz, einer der Vorreiter der Branche in diesem Bereich, zeigt uns, was gemessen und untersucht wird.
Mercedes-Benz empfing uns im «Technologiezentrum Fahrzeugsicherheit» (TFS) in Sindelfingen, dem Herzstück der Unfallprävention. 273 Meter lang, 172 Meter breit und bis zu 23 Meter hoch – mit seiner Gesamtfläche von 55’000 Quadratmetern ist das TFS beindruckend. Beim Bau wurden über 7’000 Tonnen Stahl verbaut, fast so viel wie beim Eifelturm. Die Crashbahnen müssen extrem eben sein, damit die Daten aus den Crashtests möglichst genau erfasst werden können. Dafür wurde sogar die Krümmung der Erde beim Bau der Bahnen ausgeglichen. Auf den drei Bahnen werden jährlich bis zu 900 Autos auf alle Arten gegen Wände gecrashed und dabei penibel vorbereitet und vermessen.
Julia Hinners arbeitet als Ingenieurin in der Unfallforschung bei Mercedes-Benz und analysiert zusammen mit ihrem Team reale Unfallsituationen. Mit diesen ausgewerteten Informationen tragen sie kontinuierlich zur Verbesserung der Sicherheit der Fahrzeuge bei. Besonders stolz ist sie und ihr Team auf den im vergangenen Oktober durchgeführten weltweit ersten öffentlichen Crashtest von zwei Elektrofahrzeugen. Mercedes-Benz sorgte mit dem Frontalaufprall zwischen einem EQA und einem EQS SUV weltweit für Aufsehen. Die beiden Fahrzeuge waren mit 56 km/h unterwegs. Diese Kollision mit einer Frontalüberlappung von 50 Prozent spiegelt eine Art von Unfall wider, die auf Landstrassen üblich ist. Die gewählte Geschwindigkeit berücksichtigt, dass die Fahrenden im realen Unfallgeschehen noch versuchen würden zu bremsen, bevor die Fahrzeuge im schlimmsten Fall zusammenstossen.
Im Inneren dieser Fahrzeuge befanden sich vier Crashtest-Dummys – davon waren drei weiblich und einer männlich. Die Analyse der Dummys deutete auf ein geringes Risiko für schwere bis tödliche Verletzungen hin. Damit bestätigt der Crashtest das Ergebnis, das die Ingenieurinnen und Ingenieure zuvor bereits in zahlreichen Simulationen am Computer errechnet hatten. Und das, obwohl der Aufprall für die Dummies – die Fahrzeug-Verformung einberechnet – etwa 90km/h gegen eine Wand bedeutet hätte.
Dieser Crashtest macht deutlich, dass Sicherheit bei Mercedes-Benz weder eine Frage des Antriebssystems noch des Geschlechts ist. Markus Schäfer, Entwicklungsvorstand von Mercedes-Benz kommentiert mit sichtlichem Stolz: «Sicherheit ist Teil unserer DNA. Unser Ziel ist es, bis 2050 keine Unfälle mit Mercedes-Benz-Fahrzeugen mehr zu verursachen. Aber in der Zwischenzeit können Sie sicher sein, dass der Schutz von Menschenleben für uns keine Frage des Antriebs ist – und dieser Test beweist es für alle.»
Es scheint einleuchtend, dass unterschiedliche Typen von Dummys nötig sind, um unsere Gesellschaft zu repräsentieren und somit die Sicherheit bei Tests noch genauer zu analysieren. Dass bei einem Crashtest weibliche Dummys zum Einsatz kommen, war nicht immer so.
Kleine Fahrerinnen sitzen weiter vorne als grössere Fahrerinnen, um Lenkrad und Pedale zu erreichen. Frontalaufpralltests mit sogenannten Fünf-Perzentil-Frauendummys – oder Hybrid III 5. – in der vordersten Sitzposition gehören daher zum Standardrepertoire von Mercedes-Benz. „Fünf Perzentil weiblich“ bedeutet, dass nur fünf Prozent der Frauen weltweit kleiner oder leichter sind.
In Sindelfingen sind 120 Messpuppen im Einsatz, die von Technikern vorbereitet und gewartet werden. Die unterschiedlichen Dummys repräsentieren Frauen, Männer, Kinder und Babys.
Dr. Hanna Paul, Leiterin Dummy-Technologie von Mercedes-Benz zeigte uns die verschiedenen Dummy-Typen vor Ort: «Bei Mercedes-Benz verwenden wir seit mehr als 20 Jahren weibliche Dummys. Es sind aber keine menschlichen Puppen, sondern Messinstrumente. Bei der Konstruktion der Messmittel werden Gewicht und Grösse der Dummy-Geschlechter von realen menschlichen Daten abgeleitet.»
Damit Hanna Paul und ihrem Team nichts entgeht, sind moderne Dummys wie das Modell THOR mit bis zu 220 Messpunkten ausgestattet. Jedoch sind sämtliche dieser Sensoren nutzlos, wenn sie nicht präzise funktionieren. Eine der wichtigsten Aufgaben besteht daher darin, die Sensoren regelmässig zu überprüfen.
Bisher sprach man bei kleineren und leichteren Dummy von weiblichen Dummys. Dabei wurden jedoch weitere Unterschiede hinsichtlich Körperbau von Frauen nicht berücksichtigt. Dies ändert die schwedische Ingenieurin Astrid Linder, welche den nach ihrer Aussage ersten weiblichen Crashtest-Dummy entwickelte und im September 2023 präsentierte. Dies ist aber nur für einen einzigen Crashfall einsetzbar – den Heckaufprall. Für alle anderen Crash-Szenarien ist er (noch) nicht zu nutzen. Dass unsere Anatomie in Zukunft bei Crashtest und somit bei der Verbesserung der Sicherheit neuer Fahrzeuge berücksichtig wird, gibt Hoffnung, dass sich die Sicherheit für Frauen im Verkehr verhältnismässig noch stärker verbessert.
Aktuell forscht die NHTSA (US-amerikanische, zivile Bundesbehörde für Strassen- und Fahrzeugsicherheit) übrigens daran, inwiefern Verletzungsrisiken vom Geschlecht abhängen. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse bestätigen die bisher gemachten Erkenntnisse, dass das Geschlecht nicht die wichtigste Einflussgröße auf die Verletzungshäufigkeit darstellt. Die bereits seit 20 Jahren im Einsatz befindlichen Dummys sind demnach bereits wirksame Messmittel für die Entwicklung von Sicherheitssystemen. Klar ist indes, dass – statistisch betrachtet – Frauen häufiger kleinere und ältere Fahrzeugmodelle fahren, in denen sie damals weniger gut geschützt waren. Dies hat sich gemäss NHTSA seit dem Jahr 2000 deutlich verbessert.
Gemäss Mercedes-Benz forscht man aber mit neuen Dummys, um mehr über die Auswirkungen eines Heckaufpralls zu erfahren, denn die Vermutung liegt nahe, dass Frauen aufgrund unterschiedlicher Muskelverteilung Nacken einem anderen Risiko ausgesetzt sind. Dieser spezielle Dummy der schwedischen Forscherin existiere jedoch vorerst nur als nicht zugelassener Prototyp. Die Auto, Motor und Sport berichtete 2022 darüber, dass es einen Gender Safety Gap gäbe und „Frauen bei einem Autounfall ein deutlich erhöhtes Verletzungs- und gar Sterberisiko tragen“ und zitiert dabei die NHTSA, die berechnete, dass bei Frauen zwischen 1960 und 2009 die Wahrscheinlichkeit, bei einem Verkehrsunfall zu sterben über 18% höher lag als bei Männer. Dieser Wert sei indessen auf 2,9% geschmolzen. Mercedes-Benz widerspricht den Zahlen insofern, dass der Unterschied mit den bereits erwähnten kleineren und älteren Fahrzeugen erklärt werden kann. Da sich mittlerweile bei der passiven Fahrzeugsicherheit viel getan hat, habe sich auch der Wert verkleinert und zitiert eine entsprechende Studie des Insurance Institute for Highways Safety IIHS. Diese zeigt heute, dass es keine Unterschiede mehr gebe.
Im Jahr 2022 verunglückten gemäss statistischem Bundesamt Deutschland insgesamt 2’776 Menschen tödlich im Straßenverkehr. In der Schweiz starben gemäss Bundesamt für Statistik pro Woche 5 Menschen (2022: 241 Todesopfer). Grundsätzlich ist die Zahl für schwere und tödliche Verletzungen im Auto seit Jahren international rückläufig.
Dennoch sollte man nichts unversucht lassen, die anatomischen Unterschiede in der Unfallforschung möglichst genau zu erforschen.
Die beiden Ingenieurinnen Dr. Hanna Paul (l.) und Julia Hinners (r.) beschäftigen sich tagtäglich mit viel Herzblut mit dem Thema Sicherheit bei Mercedes-Benz und retten mit ihrem Einsatz Leben im Strassenverkehr. Sie sind Vorbilder für junge Engineerinnen, welche in der obersten Liga dieser männerdominierten Branche Fuss fassen wollen.
Mehr Informationen:
- www.adac.de: Schwangerschaftsgurte im Test: Keiner hält, was er verspricht
- www.safetywissen.com: World’s First Mechanical Model of an Average Female Atd – the Seat Evaluation Tools Set 50f and 50m
- mercedes-benz.com: Schrott sei Dank!
- www.auto-motor-und-sport.de: Eva soll Autos für Frauen sicherer machen