Die Sprachspielerin in mir übersetzt diese einfache Aufforderung mit: „Sei ein Kind!“ Dabei ist es ein Aufruf zu Freundlichkeit. Wir alle spielen verschiedene Rollen, wir alle tragen im Geschäftsleben unterschiedliche Masken. Die frühmorgendliche Feuchtigkeits-Maske wird abgelöst durch die professionelle Freundlichkeits-Maske. Zumindest im besten Fall, so scheint es. Wir bemühen uns, etwas zu spielen, sind spielerisch bemüht oder bemüht spielerisch, was bereits die ganze Widersprüchlichkeit aufzeigt. Wenn wir also ohnehin eine Maske aufsetzen, weshalb denn nicht gleich eine freundliche?
In dieser Frage steckt mehr Brisanz und Kulturphilosophie, als man denken könnte. Freundlichkeit, Kindness, ist nicht einfach eine Tugend. Freundlichkeit ist ein kulturelles Phänomen. This kind of kind, von dem wir im Business sprechen, hat seinen Ursprung vor allem im modernen Nordamerika.
Als junge Frau, europäisch, humorvoll, spöttisch und leicht arrogant, gesättigt mit gelöffelten Weisheiten, machte ich mich auf, die Freundlichkeit zu lernen. Unfreiwillig. Ich kannte und schätzte die kühle Höflichkeit der Briten, welche die reine Gefälligkeit gerne auch einmal dem schwarzhumorig morbiden Zynismus opfern. Auf dem Festland findet sich diese Art von Umgangsform höchstens in Österreich. Ich kannte die raue Verbindlichkeit der bäuerlichen Landbevölkerung in West- und Nordeuropa. Damit war ich aufgewachsen. Bei uns sagte niemand: „Du hast mir heute ein Lächeln ins Gesicht gezaubert“, bei uns sagte man: „Jetzt ist mir gopferdeckel wegen dir fast der Stumpen aus der Schnorre gefallen!“ Ich kannte die südeuropäisch temperamentvoll eruptierende Herzlichkeit, die im Norden nicht einmal in Umarmungen von Familienmitgliedern zu finden ist.
Doch gelandet in den USA, dem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, der unbegrenzten Kindness, musste ich mich erst an die Umgangsformen gewöhnen. Es schien kein Problem zu sein, einer Fremden ein Kompliment zu ihrer Bluse zu machen oder einen Unbekannten für seinen Haarschnitt zu loben. Gleichzeitig schien es einem Verbrechen gleichzukommen, explizit nach einer Toilette zu fragen. Natürliche Bedürfnisse an- und auszusprechen war für mich völlig normal. Ungefragte Komplimente hingegen empfand ich als übergriffig.
Das beinahe zwanghaft anmutende Nettsein und gleichzeitige Ignorieren der biologischen Umstände wirkte auf mich eher kindisch als kind.
Als spöttische, aber im Grunde naive Europäerin verwechselte ich die amerikanische Freundlichkeit, diese Kindness, mit Verbindlichkeit. Komplimente wertete ich als Flirtversuche, was zu irritierenden Situationen führte. Ich verbrachte einen Abend mit einem gefälligen jungen Mann, er stellte mich seinen Bekannten als seine „new Swiss friend“ vor, als eine Freundin. Bis ich jemanden als „Freundin“ bezeichne, braucht es einige Jahre, mehrere Krisen, gemeinsame Nervenzusammenbrüche und mindestens zwei gescheiterte Projekte. Besagter amerikanischer Friend erkannte mich am nächsten Tag nicht mehr auf der Strasse. Ich fühlte mich betrogen. Hinter der Maske der verbindlichen Freundlichkeit steckte ein gleichgültig ignoranter Mensch.
Eine ähnliche Erfahrung machte ich an einer internationalen Wissenschaftstagung im Tessin während meines Zweitstudiums. Unter anderen verbrachte einer der bedeutendsten Gegenwartsphilosophen der Uni Stanford den Tag mit mir. Man hätte akademische Distanz erwarten können, intellektuellen Zynismus, wie es der Kalenderspruch-Generator Richard David Precht gerne zur Schau stellt. Doch da war nichts als verbindliche Freundlichkeit, eine Mischung aus Dumbledore und Father Christmas mit Expertise in Deweys Pragmatismuslehre. Wir traten in ein überfülltes, geschäftiges Lokal und reservierten freundlich einen Tisch für später. Zehn Personen. Con piacere.
Später hatten die Amerikaner dann aber plötzlich keinen Hunger mehr. Mit schweizerischem Pflichtbewusstsein wollte ich die Reservation stornieren gehen, damit der Tisch freigegeben werden könne. Die Amerikaner hielten mich sehr freundlich, aber bestimmt davon ab. Not our business. Hinter der freundlichen Maske steckte keinerlei Empathie für die hart arbeitenden Menschen in der Gastronomie.
Ist es diese Kindness, die wir wollen? Was ist besser: eine österreichisch spröde Marlene Engelhorn, welche ihr Millionenerbe an den Staat und an sozial Benachteiligte rückverschenken will, oder eine überaus freundliche Geschäftsfrau, die einen knallhart über jenen Tisch zieht, den sie im Zweifelsfall nicht mal stornieren würde?