Wir stehen allmählich am Scheideweg. Denn viele sind unzufrieden und verschaffen ihrem Ärger auf der Strasse Luft. Viele fühlen sich nicht gehört. Nicht gesehen. Nicht erkannt. Nicht nur aber auch die Gen Z fordert, dass wir umdenken. Und dazu gehört auch die Art und Weise, wie wir in Wirtschaft miteinander umgehen und agieren. Hinzu kommen die beängstigend steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen, Erschöpfungsdepressionen und Suizidversuche. Viele können schlicht nicht mehr. Die Frage ist, wie lange wir da wegschauen können.
Grundsätzlich gibt es bei der Kindness Economy aus meiner Sicht zwei Betrachtungsweisen:
- Kindness, die ich als Mensch ausstrahle, als Wesenszug sozusagen, die mit meinen Leadership Fähigkeiten zu tun hat, mit Gentle Leadership, welcher übrigens vom Wortstamm her auf einen „Tribe“ (im lateinischen „gens“) referenziert.
- Und Kindness als Sicht eines Unternehmens, welches die interne und externe Kommunikation aber auch die Produktion, die Arbeitsbedingungen oder die gesamte Wertschöpfungskette entsprechend aufsetzt.
Auf der persönlichen Ebene geht es definitiv nicht um naive Nettigkeiten.
Und Kindness Economy bedeutet übrigens auch nicht, dass wir alle freudig knuddelnd und unentwegt kuschelnd um einen Eierkuchen tanzen. Es bedeutet: we agree to disagree. Wir gehen auch im Konflikt respektvoll um und besinnen uns auf unsere Werte.
Ist die Kindness Economy naiv?
Schaffen wir es denn wirklich, mal ganz trivial ausgedrückt, miteinander nett zu sein, wenn alles südwärts geht? Wenn es um knappe Ressourcen geht – wie Geld oder Nahrungsmittel?
Das kann man sich auch bei Liebesbeziehungen manchmal fragen. Wie im Kleinen so im Grossen. Wieso gibt es denn das „Recht des Stärkeren“ über den Schwächeren? Auge um Auge? Zahn um Zahn? Lieber wird wer anderes gefressen als ich? Können wir Menschen also wirklich harmonisch miteinander umgehen wenns heiss her geht? Dr. med. Evelyn Mauch erklärt uns in ihrer Kolumne, weshalb wir gerade in Notsituationen nicht mehr freundlich und emphatisch reagieren können: Der Körper sieht Kindness in solchen Momenten als unnötig an. Stresshormone fluten den Körper, das Bindungs- oder Kuschelhormon Oxytocin ist fürs primäre Überleben ja nicht notwendig. Das erklärt doch einiges. Aber: wir können trainieren, in Notsituationen einen Rest von Empathie zu bewahren. Es ist alles eine Frage der Übung und des Wollens.
Ich halte es mit Kindness übrigens so: wenn mich jemand betrügt oder belügt, weil er meine Kindness als Schwäche interpretiert, ist das nicht mein Problem. Wer betrügt und lügt, andere übervorteilt oder sogar ausbeutet muss mit seinen eigenen Handlungen sowie den Konsequenzen, die daraus resultieren, leben können. Nicht ich.
Es braucht eine unfassbare mentale Stärke, Kindness durch und durch zu leben, sich nicht einfach von Ärger oder Aggressivität, von Ungeduld oder Überforderung überwältigen zu lassen. Es bedarf extrem hoher Selbstkontrolle und Fokus sich in hektischen, dunklen, schwierigen Zeiten nicht gehen zu lassen. Wer denkt, dass Kindness mit Schwäche gleichzusetzen ist, der irrt also ganz, ganz gewaltig! Und ich übe mich beständig darin, auch in schwierigen Situationen mit dem Herzen sehen zu können, um es mal mit dem kleinen Prinzen auszudrücken.
Aber es ist nur die halbe Wahrheit, wenn wir über Kindness Economy sprechen.
Es geht hier auch um das, was wir unter Customer Centricity, positive Kommunikation, inkludierende Führung verstehen. Als Cradle To Cradle-Prinzip, soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Echte Werte und Wertschöpfungsketten.
Werte, Überzeugungen geben uns Halt, Sicherheit und sind Teil der so wichtigen Sinnstiftung, wie Prof. Dr. Gudrun Sander so treffsicher beschreibt.
Ist die Vision einer Kindness Economy Realität?
Ja – gemäss der Zukunftsforscherin Oona Horx Strathern gibt es diverse Unternehmen, die dies in der internen wie externen Kommunikation und in ihrer ganzen Kultur und Philosophie so leben. Patagonia ist nur eines der Beispiele, die sie in ihrem eben erschienenen Buch anführt. Studien von McKinsey zeigen zudem, dass Unternehmen mit starken Kulturen bis zu 300% höhere Gesamtrenditen erzielen (mehr dazu auch in der Kolumne von Mylène Thiébaud). Oh, yes, baby! It works!
Wir stellen in dieser Ausgabe jede Menge Fragen, die auch uns rund um dieses Trend-Thema Kindness quälen und noch haben wir nicht überall eine passende, einfache Antwort parat. Aber genau das ist so spannend. Wir sehen, dass wir in ein neues Zeitalter eintreten (dürfen, müssen, sollten…). Nun liegt es, wie immer, an uns im hier und heute die Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Vielleicht braucht es für einen Kulturwechsel wahrlich so etwas wie radikale Grosszügigkeit, radikaler Respekt, radikale Freundlichkeit, radikale Zugewandtheit, radikale Wahrhaftigkeit und ganz viel Zuhören.
All dies bietet den Nährboden für so viel Grossartiges. Es ist das Fundament eines neuen Zusammenlebens, auf dem wir aufbauen können.
In Anlehnung an Mary Portas, quasi die Erfinderin der Kindness Economy, schliesse ich dieses Editorial mit einem Call to Action: Let’s start to give a shit.
Oder wie Marina Parris auch in ihrer Kolumne viel poetischer mit Goethe ausdrückt: Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll. Und das Schönste daran: Kindness ist verdammt ansteckend.
Viel Spass bei der Lektüre der Ausgabe No 65 rund um das Thema Kindness Economy!
Eine Umärmelung
Eure Stella
Die folgenden Artikel sind in unserem Printmagazin Ladies Drive No 65 (Frühlingsausgabe 2024) erschienen.
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