Wie bist du auf die Idee gekommen, Arbeitsplätze für ehemalige Prostituierte zu schaffen?
Ich bin im Thema Menschenhandel, spezifisch sexuelle Ausbeutung unterwegs. Ich habe viel mit Menschenhandelsopfern gesprochen. Eine Frau sagte mir in einem dieser Gespräche: „Ich brauche kein Mitleid. Ich brauche einen Job.“ Dieser Satz wurde zu unserem Motto. Mein Mann war Kriminaldetektiv bei der Polizei. Er hat meine Leidenschaft gesehen und auch Feuer gefangen. Er hat eine sechsmonatige Ausbildung zum Social Manager absolviert, um zu erfahren, wie man ein Social Business startet. Danach wollten wir ins Ausland gehen, wir dachten an Asien, Indien oder Südafrika. Während unserer Vorbereitungen haben wir mit verschiedenen Leuten gesprochen, unter anderem mit einer Bekannten, die von einem sechsmonatigen Stage aus Tel Aviv zurückkam. Sie hat uns von der allgegenwärtigen Prostitution in der Lifestyle Metropole erzählt.
Wie bitte? Prostitution im Heiligen Land?
Ja! Tel Aviv ist eine Partystadt und die Sexindustrie boomt! Es gibt viele Migrant:innen mit jüdischen Wurzeln. Sie haben das Recht, Israeli zu werden, wenn sie beweisen können, dass sie Juden sind. Das Problem ist, dass sie oft die Sprache nicht sprechen, und darum ihre erlernten Berufe nicht ausüben können. So werden manche vulnerabel für Ausbeutung oder sehen sich aus Not gezwungen, als Sexarbeiter:innen zu arbeiten. Im Sinne von „Ich helfe dir, aber nicht ohne Gegenleistung“.
War es einfach für euch, in Tel Aviv ein Business zu eröffnen?
Israel ist eine Startup-Nation. Innovation und neue Ideen werden mit offenen Armen empfangen. Man lernt schnell die richtigen Menschen mit dem richtigen Know-how und dem richtigen Netzwerk kennen. Die Kultur ist unvergleichlich! Man erzählt, was man machen will und Boom! kommen alle Leute zusammen und helfen mit! Die Devise lautet „Go for it!“. Wenn es nicht klappt, ist das kein Versagen, sondern ein wichtiger Schritt zum Erfolg. Und so kamen wir 2014 mit unseren drei Kindern als Nicht-Juden und ohne Connections in das Land. Wir hatten nichts, ausser einem Volunteer Visum.
Wie haben eure Kids den Schritt aufgenommen?
Wir haben von Anfang alles auf eine Karte gesetzt und unsere Kinder sofort eingeschult. Nach vier Monaten haben sie bereits hebräisch gesprochen. Wir haben einen Business Plan geschrieben und knüpften Kontakte zu Frauenhäusern und staatlichen Institutionen, die uns die ersten Mitarbeiter vermittelten, die auf der Suche nach einem sicheren Arbeitsplatz waren. Die ersten zwei Jahre waren aber vor allem von intensiven Vorbereitungen geprägt, in denen wir daran arbeiteten, tragfähige Beziehungen zu den genannten Vermittlungsstellen und dem Ministerium für Wohlfahrt und Integration aufzubauen. 2016 war es dann soweit und wir haben das erste Unternehmen gegründet.
Mit welcher Geschäftsidee seid ihr an den Start gegangen?
Die Idee war aus Alt Neu zu machen. Wir wollten ein Business starten, in dem die Leute sofort mitarbeiten und eine Art Berufslehre absolvieren können. Gestartet haben wir mit Paletten-Möbel für urbane Cafés und Shop-Einrichtungen. Eine Bekannte, die auch Volontärin bei uns war, hat uns später auf die Idee mit dem Kite-Material gebracht. Sie ist Schneiderin, Designerin und Kite Surferin. Sie hatte die Idee mit „Kitepride“ und hat uns diese überschrieben. Mittlerweile begleiteten wir über 100 ehemalige Prostituierte, und beschäftigen Mitarbeiter:innen, die hochwertige Taschen, Rucksäcke und Accessoires aus alten Kites und Fallschirmen herstellen.
Wie kam es, dass dich das Thema Menschenhandel so stark gefesselt hat, dass du dein „gutes altes Leben“ in der Schweiz dafür über Bord geworfen hast?
Ich habe 10 Jahre im Tourismus, damals noch bei Swissair und am Flughafen Zürich, gearbeitet. Während der Schwangerschaft habe ich die Ausbildung zur Fitness-Instruktorin und Massagetherapeutin gemacht, mit dem Gedanken, selbständig zu arbeiten, um mir die Arbeitszeit zugunsten meiner Kids zu organisieren. Als Fitnessinstruktorin konnte ich dazu beitragen, dass die Menschen stärker und gesünder werden.
Ich liebe Menschen und ich liebe es zu sehen, wie sie aufblühen.
Ich hatte bereits davor viele Bücher über Menschenhandel und Zwangsprostitution gelesen. Bei solchen Themen ist man entweder paralysiert – oder man wird aktiv. Ich zähle zu den aktiven Menschen. Dieser unglaublichen Ausbeutung von Frauen, die das überhaupt nicht wollen, konnte ich nicht tatenlos zusehen.
Wie bist du den Prostituierten nähergekommen?
Ich war auf dem Weg zu einer Frauenorganisation im Rotlichtviertel. Es hat in Strömen geregnet. Ich trug meine sechs Wochen alte Tochter im Tragtuch. Eine Prostituierte kam auf mich zu. Ich habe ihr meinen Schirm angeboten. Sie fragte, ob sie meine Tochter küssen darf. Sie roch nach Alkohol. Ihre Lippen waren mit tiefrotem Lippenstift verschmiert. Mein Herz hat sofort „Ja!“ gesagt. Mein Kopf kam gar nicht nach. Sie hat meine Tochter geküsst. Mit Tränen in den Augen hat sie mir in gebrochenem Deutsch erklärt, dass sie drei Kinder hat und nicht weiss, wo diese sind. Sie wurde in die Schweiz verschleppt. Man hatte ihr einen Job versprochen. Sie musste dafür ihre Kinder zurücklassen. Das ist eine typische Geschichte. Ich wollte der Frau helfen und sie mitnehmen zu der Organisation. Aber sie hatte Angst und kam nicht mit. Obwohl ich sie aus den Augen verloren und nie wieder gesehen habe, war das der Moment, der mich nie mehr losgelassen hat. Die Statistik spricht von 14‘000 Menschen allein in der Schweiz, die Opfer von Menschenhandel sind. Plötzlich war da nicht mehr die abstrakte Zahl, sondern diese Frau und ihre Augen, die mir so tief ins Herz gegangen sind. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Schliesslich kam ich über eine NGO, welche Prostituierte in allen möglichen sozialen Angelegenheiten, Krankenversicherung, Kondomen etc. versorgt, buchstäblich mit Prostituierten in Berührung. Viele der Frauen haben über Schmerzen geklagt. Da kam mir die verrückte Idee, ihnen eine Massage anzubieten.
Ich ging also in die Bordelle und habe die Prostituierten massiert.
Das waren Berührungen, die den traumatisierten Frauen etwas ohne Gegenleistung gaben.
Unglaublich! Was treibt dich heute als Unternehmerin an?
Es sind die Augen! Die Augen sind der Spiegel der Seele. Jede Person, die bei uns zu arbeiten beginnt, hat am Anfang diese leeren, glanzlosen Augen. Wenn sie länger bei uns sind, fangen sie plötzlich an zu leuchten. Es geht mir sehr nahe zu sehen, wenn in ihrer Seele etwas heil geworden ist. Mit der Arbeit fühlen sie sich wertvoll, geliebt, angenommen. Sie tragen nicht das Label „Ex-Prostituierte“, sondern sind Menschen, die bewusst oder unbewusst einen falschen Weg eingeschlagen haben. Wen kümmerts? Jetzt sind sie hier und wollen in die Zukunft schauen. Genau das leben wir. Niemand wird kategorisiert. Unser Motto lautet „Come as you are“. Wir helfen dir, deinen Traum zu leben.
Das ist sehr berührend!
Viele sagen, was ich mit meiner Arbeit mache, ist doch nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Das stimmt. Vielleicht sind es „nur“ 100 Frauen in 10 Jahren, welchen ich einen sicheren Arbeitsplatz bieten kann. Aber jede dieser 100 Frauen ist Tochter, Mutter, Freundin und verdient Wertschätzung. Sie fühlen sich bei uns angenommen und sind stolz auf ihren Lohn. Sie beginnen plötzlich, an sich zu glauben. Manche holen sogar ihren Abschluss nach. Eine Mitarbeiterin hat ihren Buchhaltungsabschluss nachgeholt und arbeitet jetzt im Familienunternehmen ihrer Eltern. Genau das wünschen wir uns. Klar ist es schön, wenn die Leute ewig bei uns bleiben, aber wir wollen sie ja integrieren und immer mehr Menschen helfen. Wir geben ihnen die Zeit, die sie brauchen, um wieder ein normales Leben wie du und ich zu führen. Je gesünder die Menschen werden, desto eher merken sie wie kaputt sie waren. Aber natürlich findet nicht jede Geschichte ein Happy End. Manche wollen sich nicht die Zeit nehmen, ihre posttraumatische Belastungsstörung auszuheilen. Sie überfordern sich und fallen zurück in die Depression. Aber nie ist jemand in die Prostitution zurückgegangen.
Was bedeutet Kindness Economy für dich?
Kindness Economy hat mit Klarheit, Transparenz und Nachverfolgbarkeit zu tun. Wenn ich etwas nicht tracken kann, lasse ich die Finger davon. Wenn etwas zu billig ist, zahlt jemand anderer den Preis. Kindness bedeutet für mich, Mensch, Natur und Umwelt eine Chance zu geben.
Welchen Beitrag können wir leisten, um eine Welt mit weniger Ausbeutung und mehr Kindness zu fördern?
Menschenhandel, moderne Sklaverei und Ausbeutung gibt es nicht nur im Sexgewerbe. Als Unternehmer:innen können wir den Betroffenen Arbeit anbieten. Diese Menschen können arbeiten. Sie brauchen vielleicht ein bisschen mehr Verständnis und Begleitung, aber sie schaffen das. Allein die einmalige Chance, die sie bekommen, kann lebensverändernd für sie sein. Und selbst wenn es eine Person mal nicht schafft, müssen wir nicht gleich wieder alles hinwerfen. Geben wir den Menschen eine Chance, anstatt sie abzustempeln.
Berührungsängste? Fehlanzeige! Tabea Oppliger ist Socialpreneur, Autorin und TED-Referentin. Mit ihrer NGO und ihrem Unternehmen KitePride begleitet und beschäftigt sie 100 ehemalige Prostituierte, welche aus gebrauchten Kites Taschen und Rucksäcke herstellen.