Welchen Platz das Heilfasten heute in der Ganzheitsmedizin einnimmt und was wir gewinnen, wenn wir etwas weglassen: eine Sinnesreise in unser wahres Potenzial.
Interview: Claudia Gabler
Ladies Drive: Was bedeutet für Sie holistische Gesundheit?
Dr. Verena Buchinger-Kähler: Ganzheitliche Gesundheit beschäftigt sich nicht mit Symptombekämpfung, sondern mit Ursachenforschung. Bei der Ganzheitsmedizin fliesst der gesamte Lebensstil mit ein. Jeder, der sich mit einer chronischen Krankheit beschäftigt hat oder darunter leidet, kommt mit der aktuell in Kästchen verpackten Schulmedizin, in der für jedes Wehwehchen ein spezifischer Arzt konsultiert und ein spezifischer Parameter gemessen wird, nicht weiter. Ganzheitsmedizin erhebt den Anspruch an eine holistische Gesundheit.
Welche Rolle spielt das Heilfasten in diesem Zusammenhang?
Das heilende Fasten beschäftigt sich mit dem Menschen in seiner Körper-Seele-Geist-Einheit. Hierfür muss man bewusst einen Schritt aus dem Job und den gewohnten Abläufen zurücktreten. Das ermöglicht eine Ursachenforschung auf ganzheitlicher Ebene. Indem ich etwas weglasse, bekomme ich die Gelegenheit, aus einer Adlerperspektive auf mein Leben und meinen Lebensstil zu schauen und die Türen für Veränderung zu öffnen. Studien belegen, dass eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten oder des Lebensstils nach dem Fasten leichter fällt.
Worin besteht für Sie als Ärztin der grösste Wert des Heilfastens?
Wir erleben beim Fasten die Selbstwirksamkeit. Ich tue aktiv etwas für meine Gesundheit, nehme meine Gesundheit in die eigenen Hände und merke, dass mir mein Körper etwas Gutes zurückgibt. Heilfasten bietet eine Möglichkeit des Neubeginns. Man erlebt einen Reset der Sinne, ernährt sich bewusster, begreift Sport und Ruhephasen als zentrale Elemente, um in Balance zu bleiben. Zudem hat das Fasten eine Hausputz-Funktion. Es bietet uns die Möglichkeit, Dinge, die unsere Gesundheit beschweren und zu oxidativem Stress führen, zu entsorgen. Diese „silent inflammations“ liefern den Nährboden für chronische Krankheiten und werden durch den Prozess der Autophagie, des Zellputz-Programms beim Fasten, aufgearbeitet.
Wie oft empfehlen Sie zu fasten?
Wenn es präventiv darum geht, die Entstehung von Krankheiten abzuwenden, wieder in Balance zu kommen, neue Energie zu schöpfen, sind kürzere Fastenphasen von zehn bis 14 Tagen kostbar. Geht es darum, einen bewussten Einschnitt im Leben zu praktizieren, weil bereits einiges aus dem Ruder gelaufen ist, empfehle ich, eine 21-Tage-Einheit einzulegen. Für Menschen, die berufstätig und voll eingebunden sind, machen auch kürzere Phasen Sinn.
Was sind zwei Wochen im Vergleich zu einem Totalausfall aufgrund einer chronischen Krankheit?
Absolut! Hier muss ein Umdenken in unserem Gesundheitssystem, das ja eigentlich ein Krankheitssystem ist, stattfinden. Denn das Potenzial in Bezug auf psychische und chronische Krankheiten ist enorm. Fasten ist ein Powertool, um positive Veränderungen anzustossen.
Entfalten auch kurze Fastenintervalle positive Wirkung?
Intervallfasten und intermittierendes Fasten haben den Vorteil, dass sie sich gut in das Alltagsgeschehen integrieren lassen. Es kann aber auch sein, dass es für viele ein Stressor ist, insbesondere wenn man bereits überbelastet ist. Vorsicht ist bei uns Frauen geboten. Wir sind zyklische Wesen und mit einem wunderbaren hormonellen Auf und Ab gesegnet. Stressreize lassen unseren Cortisol-Level ansteigen. Wenn Cortisol das Fett in den Zellen hält, können wir nicht abnehmen. Bei hohem Stresslevel empfehle ich, klein anzufangen. Schon eine Fastenpause von zwölf Stunden wirkt sich positiv aus – und das kann man wunderbar über Nacht machen. Das hilft dabei, sich zu disziplinieren und nicht die ganze Zeit zu snacken.
Wie stehen Sie zu Abnehmprodukten?
Spermidin und all diese Verfahren versuchen, die Autophagie zu pushen. Aber sie unterstützen keine Lebensstilveränderungen und adressieren somit nur einen Teilaspekt. Fasting Mimicking Diets (FMD) lassen sich kommerziell am besten ausschlachten. Gegen eine Fastenbox mit schönen Pülverchen, frei Haus geliefert, spricht auch nichts, wenn man gar keine Zeit hat. Aber es ist nicht zu vergleichen mit frischen Vitaminen und Antioxidantien in ihrem natürlichen Verbund, deren Wirksamkeit jene der Nahrungsergänzungsmittel bei gleicher Dosierung deutlich übersteigt. Für Ganzheitsmedizin gibt es auch keinen Shortcut.
Sollten Frauen beim Fasten Rücksicht auf ihren Zyklus nehmen?
Optimal ist es, in der ersten Zyklushälfte nach der Periode zu starten. Das dominierende Östradiol lässt uns toll und weiblich fühlen. In der zweiten Zyklushälfte dominiert das Progesteron, wir können zu uns selbst finden und bestimmte Dinge klarer sehen. Auch das ist eine super Phase zum Fasten. Beim prolongierten Fasten, das wir praktizieren, beobachten wir, dass sich häufig die Werte der Nebennierenhormone deutlich verbessern, was vielleicht auch die positive Wirkung bei Burn-out erklärt. Dazu wünsche ich mir noch viel mehr Forschung!
Gibt es für Frauen in der Menopause auch gute Nachrichten, was das Heilfasten betrifft?
Ich sehe grosses Potenzial für post- und perimenopausale Beschwerden. Hitzewallungen nehmen zum Beispiel ab oder verschwinden ganz. Fasten wirkt wie ein Hormonpush. Die Leute fühlen sich wieder gut. Das beobachten wir regelmässig in unserer Klinik.
Die Agenda der meisten von uns ist übervoll. Welchen Beitrag kann Heilfasten beim Abbau von Stress und beim Aufbau von Resilienz leisten?
Fasten ist ein Achtsamkeitstrainer. Im Fasten wird unser Anfängergeist belebt. Ich sehe, fühle, schmecke, rieche Dinge wie beim ersten Mal. Das sind Zeichen dafür, dass sich unsere Wahrnehmung verändert. Beim Fasten switchen wir in den ketogenen Stoffwechsel. Die Ketonkörper wirken auch im Nervensystem „entwässernd“. Die Reizleitung funktioniert wieder besser, sodass sich bestimmte Lernprozesse leichter ausbilden. Eine ketogene Ernährung wirkt bei manchen neurologischen Erkrankungen sehr positiv. Auch können Verbesserungen in der Synapsenbildung und im Langzeitgedächtnis durch den sogenannten Brain-derived neurotrophic factor (BDNF) beim Fasten nachgewiesen werden.
Sie zählen mit Ihrer Familie zu den Pionierinnen und Pionieren im Heilfasten. Welche Erkenntnisse sind seit eurer Gründung 1920 hinzugekommen, was ist gleich geblieben?
Früher stand verstärkt die Behandlung von Erkrankungen im Vordergrund. Heutzutage steigt der Anteil an präventiv Fastenden stetig, was ich sehr begrüsse. Heilfasten ist schon immer Ganzheitsmedizin gewesen. Hinzukommend verstärkt sich in der Moderne auch das positive Erleben körperlicher Signale: Beim Fasten kehren wir in unseren Körper zurück. Im Englischen nennt man diese bewusste Körperwahrnehmung „Embodiment“. Ein wichtiger Zugang zum „Bauchgefühl“, das uns ein grossartiges Frühwarnsystem sein kann, für alles, was uns hilft oder auch langfristig schaden würde. Ein weiterer hinzugekommener Aspekt ist Forschung. Manchmal wünschte ich, mein Urgrossvater würde noch leben und das alles sehen. Er hat immer davon gesprochen, dass der innere Arzt „Archeus“ ans Werk geht und die Zellen reinigt. Heute wissen wir: Das ist Autophagie. Und wir wissen, dass der oxidative Stress beim Fasten abnimmt und unsere Kapazität, freie Radikale abzufangen, zunimmt. Wir sehen antientzündliche Effekte. Vieles muss noch erforscht werden. Wir sind mehr als die Summe unserer Teilchen.
Was empfehlen Sie unseren Leserinnen, die sich gerade keine Fasten-Auszeit gönnen können: Worauf sollten sie im Alltag achten, um sich ganzheitlich wohlzufühlen?
Achtsamkeit können wir sehr gut in unseren Alltag integrieren, indem wir uns die Zeit nehmen, Alltagsmomente mit allen Sinnen zu erfahren. Sei es das Essen oder eine schöne Dusche. Mit der Zeit wird man sensitiver. Achtsamkeit wirkt wie eine Mini-Meditation. Wir sehen im Hirnscan ein wunderbares Feuerwerk zwischen beiden Gehirnhälften. Das ist Anti-Aging fürs Gehirn und hilft auch im Hormonhaushalt bei der Entspannung. Was ich auch allen empfehlen kann: Ab in die Natur! Ohne Earplugs oder Telefon. Das wirkt sich wunderbar auf unseren Parasympathikus, den Ruheimpuls-Geber, der uns beim Abschalten hilft, aus. Drittes und viertes Allheilmittel sind Schlaf und Bewegung. All diese Dinge helfen in der Körperwahrnehmung und damit im Embodiment. Ich bin in meinem Körper zu Hause. Je mehr ich wahrnehme, desto leichter fällt mir Krankheitsprävention. Mein Körper ist mein Freund, mein Verbündeter. Er ist daran interessiert, dass es uns gut geht in diesem Leben. Er sendet uns Red Flags, bevor die Erkrankung da ist. Wir müssen nur auf ihn hören.