Lavinia Heisenberg
Prof. Dr. Lavinia Heisenberg ist Kosmologin und erforscht im Schwerpunkt die Gravitation.
Für ihre bahnbrechende Forschung zu ihrer systematischen und detaillierten Analyse der Schwerkraft wurde sie 2020 mit dem prestigeträchtigen Latsis-Preis der ETH Zürich ausgezeichnet.
Abwesenheit von Illusion
Die Corona-Zeit verlangt von uns viel: Ausdauer, Geduld, Kraft, Einsatzbereitschaft, Solidarität und Durchhaltevermögen. Abgesehen von den Einschränkungen der Bewegungs- und der Versammlungsfreiheit ebenso wie des Konsums, die uns aufgezwungen wurden, mussten manche von uns auch noch durch schmerzhafte Trennungen, Ängste und Einsamkeit durchgehen und sich neu definieren in diesem Sturm. Dadurch haben wir jedoch auch viel Resilienz gewonnen. Wir vermissen den unbeschwerten Kontakt zu anderen Menschen, Besuche in Konzerten und Museen, Spaziergänge in Parks und gelegentliche Stunden in Cafés und Restaurants.
Doch, wir haben die Tendenz dazu, viele Dinge als selbstverständlich zu betrachten. Dieses Jahr hat uns gezeigt, wie sich alles radikal von heute auf morgen ändern kann: Kontakte nach aussen streng verboten, keine kulturellen Aktivitäten oder Austausch mehr, keine Sportveranstaltungen, keine Cafés, Restaurants und Bars. Plötzlich waren wir gezwungen, unsere eigene Glückseligkeit in uns selbst zu finden, vor dem wir immer so wegliefen und uns ablenkten. Konnten wir dadurch vielleicht auch zur Ruhe kommen? Ich habe aktiv Dankbarkeits- und Meditationsübungen in meine Morgenroutine eingebaut. Das kann neue Perspektiven schaffen. Im Grossen und Ganzen ging unser Leben jedoch weitgehend unbeschwert weiter, wofür wir dankbar sein sollten und weshalb wir uns sehr privilegiert fühlen sollten. Es hat Annehmlichkeiten und Höhepunkte verloren, die wiederkommen werden.
Auch wenn die Massnahmen zur Pandemieeindämmung hart waren, so hatten wir hier in der Schweiz nie eine strenge Ausgangssperre wie in manchen anderen Ländern. Wir durften weiterhin ein sehr privilegiertes Leben führen. Unsere Freiheit ist uns natürlich wichtig – ebenso wichtig sollte aber auch die Solidarität sein. Freiheit wird in einer Gemeinschaft durch Regeln und Einsicht eingeschränkt. Freiheit entsteht vor allem von innen. Die äusseren Einschränkungen, die durch Corona verursacht wurden, sind vorübergehend und schränken nur kleine Teile unserer erlebten Freiheit ein, denn deren wesentliche Aspekte bleiben eigentlich unberührt.
Ich glaube, dass es kein Geheimnis ist, dass die Corona-Krise auf die Psyche enorme Auswirkungen hat: Es können Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen durch die beschwerlichen Einschränkungen im Alltag entstehen. Da bin ich keine Ausnahme. Um das zu kompensieren, habe ich Sport gemacht und war viel in der Natur. Meditationsübungen waren auch sehr hilfreich. Die Isolation hat mir schon sehr zu schaffen gemacht, und natürlich war es auch sehr schwierig, neue Leute kennenzulernen. Ich habe es bedauert, mich nicht unbeschwert an alle Orte meiner Wahl begeben zu können.
Abstandhalten und die Maskenpflicht haben sich in uns fest verankert, sodass es sogar mittlerweile in unseren Träumen als etwas Natürliches wahrgenommen wird. Die Konsequenzen dieser Massnahmen sind jedoch enorm. Die sozialen Unterschiede werden grösser, und bestimmte Gruppen werden mehr benachteiligt als zuvor. Die Zahl der Arbeitslosen stieg an, und viele Länder leiden unter schwersten Rezessionen. Die Situation verschärft auch die Probleme der häuslichen Gewalt. Die Bildung leidet sehr stark darunter, und Benachteiligte kriegen nicht dieselben Bildungschancen. Kinder und Jugendliche leiden ganz besonders unter den Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Arbeitswelt wird immer stärker digitalisiert, und es wird sogar diskutiert, ob das Recht auf Homeoffice gesetzlich verankert werden könnte. Die Folgen werden uns noch für eine lange Zeit beschäftigen müssen, sowohl finanziell als auch gesellschaftlich und psychologisch.
Pandemien schlimmster Sorte hat es immer gegeben, und uns ist es gelungen, innerhalb von weniger als einem Jahr hochwirksame Impfstoffe gegen Corona zu entwickeln, zu testen und in grossem Umfang zu verabreichen. Betonen wir das Erreichte und wie es erreicht werden konnte, oder kritisieren wir, was noch besser hätte ablaufen können? Es gab beeindruckend solidarisches Verhalten; es wurde aber auch sichtbar, welche Teile der Gesellschaft wenig berücksichtigt und beachtet werden: Familien, Kinder, menschliche Dienstleistungen; kurz gesagt alle diejenigen, die wir in unserem üblichen, praktizierten Wertesystem als schwach oder ineffizient ansehen. Die Einschränkungen und wie sie beschlossen und durchgesetzt wurden haben grell beleuchtet, was wir als besonders wichtig ansehen, nämlich den Konsum und alles, was damit zusammenhängt, und was wir vernachlässigen, nämlich die Schwachen, Hilfsbedürftigen und den intrinsischen Wert von menschlicher Entwicklung, Bildung und zwischenmenschlicher Solidarität.
Innere Freiheit entsteht aus der Abwesenheit von Illusionen; äussere Freiheit aus der Möglichkeit, sich ungehindert zu entwickeln.
Wo sind diese echten Formen der Freiheit wirklich in Gefahr? In ihren Entwicklungsmöglichkeiten behindert und gefährdet sind vor allem diejenigen, die Begegnungen zu ihrer Entwicklung brauchen, das sind die Kinder, die Jugendlichen, viele ältere Menschen, aber auch Berufsgruppen wie Künstler*innen und die vielen Menschen, denen der Verlust von Einkommen und langfristige Gesundheitsschäden viele Entwicklungschancen nehmen.
Diesen Menschen sollte unsere Solidarität gelten.