Und das gelingt bekanntlich gemeinsam viel besser als einsam. Die Ting Community finanziert Projekte, die sie für sinnstiftend hält.
An einem warmen Frühlingsnachmittag treffe ich Mitbegründerin Ondine Riesen im Karl der Grossen in Zürich für unser Interview und verlasse das Café mit neuer Zuversicht und Inspiration.
Interview: Sara Rodrigues Almeida
Ladies Drive: Wie hast du deinen Purpose gefunden?
Ondine Riesen: Ich war als Kind sehr aufsässig, laut und unkonzentriert und wusste nicht, wo meine Stärken lagen. Als ich meine Maturaarbeit schrieb, hatte ich so gar keine Ahnung, worüber ich schreiben sollte. Eines Tages sah ich in einer Zeitung den Titel „Afrika“. Ich öffnete die Karte des afrikanischen Kontinents, und mein Finger zeigte auf Ruanda. So entschied ich mich, meine Abschlussarbeit über Ruanda und den Genozid zu schreiben. Es war genau der Moment, in dem ich spürte, dass mich diese Themen wirklich berührten. Ich interessierte mich für Situationen, in denen Macht missbraucht und den Menschen dadurch Leid zugefügt wird. Spannend ist für mich zudem die Weltpolitik, Transformation, Ungleichheit und generell die Machtaufteilung in unserer Gesellschaft. Aus diesem Grund habe ich Internationale Beziehungen in Genf begonnen zu studieren und dann zu Politik, Geschichte und Menschenrechte in Fribourg gewechselt.
Wie ist es aus dieser Motivation schliesslich zur Gründung der Ting Community gekommen?
Mitglieder aus dem Verein Grundeinkommen und des Think Thank Dezentrum haben sich zusammengetan, um zu überlegen, was man machen kann, damit mehr Menschen in der Lage sind, ihr Leben und ihre Zukunft selbstverantwortlich zu gestalten. Angesichts der Digitalisierung und Automatisierung gehen immer mehr Arbeitsplätze verloren. Diejenigen, die ihre Arbeit verlieren, sind nicht unbedingt diejenigen, die die neuen Jobs, die zeitgleich entstehen, übernehmen können. Wenn alle gleichzeitig Richtung Jobcenter pilgern, ist das System überfordert, und es dauert meist lange, bis die Politik reagiert. Deshalb wollten wir schon jetzt etwas tun, damit Menschen in die Zukunft schauen können. Wenn ich glaube, dass mein Job in zehn Jahren nicht mehr existiert, muss ich mich jetzt fragen, in welche Richtung ich gehen möchte. Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Ting Community.
Welches Problem löst die Ting Community?
Zugang zu Geld für die Umsetzung von Ideen ist nicht allen in gleichen Massen gegeben, und diejenigen, die kein Geld haben, müssen die richtigen Bedingungen erfüllen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten. Wir denken, es ist einerseits wichtig, mehr Menschen Zugang zu finanziellen Mitteln für ihre Vorhaben zu geben und andererseits ihnen auch die Option des Scheiterns zu ermöglichen. Denn nur wenn man davon ausgehen kann, dass Scheitern nicht das Ende der existenziellen Grundlage zur Folge hat, probiert man neue, kreative, mutige Dinge aus, die wir als Gesellschaft aktuell dringend benötigen. Wir möchten den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu überlegen, was man da draussen besser machen könnte. Die Pandemie hat beispielsweise bei einigen Menschen Zeit und Raum verschafft, um über das Leben und die Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit nachzudenken. Ein Umdenken hat stattgefunden. Mit der Ting Community erschaffen wir diesen nötigen Freiraum. Wenn man das tun darf, was man kann und auch will, hat man eine komplett andere Energie. Wollen wir nicht eine Gesellschaft, in der Menschen mit Energie an Sinnhaftem arbeiten?
Wie funktioniert die Ting Community?
Das System funktioniert ähnlich wie die AHV, eine Versicherung und jedes andere Umlageverfahren. Viele Menschen zahlen regelmässig ein, und einzelne Personen können daraus Mittel erhalten, um ein Vorhaben umzusetzen. Um ein solches Vorhaben zu finanzieren, muss eine Eingabe gemacht werden. Freiwillige der Community, die sich dafür zur Verfügung gestellt haben, bewerten die Eingaben anhand von vier Fragen auf einer Skala von 1 bis 10:
- Erkenne ich intrinsische Motivation?
- Glaube ich, das Vorhaben bringt die Person weiter?
- Erkenne ich im Vorhaben einen gesellschaftlichen Nutzen?
- Kann ich ethisch hinter dem Vorhaben stehen?
Wenn die Eingabe genügend Punkte auf der Skala erreicht, wird die Person mit Geld aus dem gemeinsam angehäuften Vermögen unterstützt. Letztendlich entscheidet also die Community, wem das Geld zugutekommt.
Was ist das Ziel der Ting Community?
Wir möchten den Menschen mehr Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung ermöglichen. Wir bewirken, dass mehr Leute versuchen, ihre Ideen zu verwirklichen, damit sie einerseits zufriedener werden und anderseits mehr Ideen an die Oberfläche gespült werden. Unser Fokus liegt auf der finanziellen Unterstützung von Menschen, die ins Tun kommen wollen. Wir arbeiten mit einem Menschenbild, das davon ausgeht, dass jeder Mensch am besten weiss, wo er/sie Sinnhaftigkeit erkennt und seine/ihre Tatkraft einsetzen möchte. Deshalb sind auch die Auswahlkriterien bei unseren Kriterien so offen, denn wir können ja nicht per standardisiertem Formular aus dem Backoffice vorgeben, wohin die intrinsische Motivation einer eigenständigen und uns noch unbekannten Person fliesst. Es geht um Vertrauen. Wir wagen damit eine neue Förderlogik und wollen herausfinden, ob dies als ein mögliches zukunftsfähiges Modell für bestehende Sozialversicherungen angewendet werden kann, die wie wir finanzielle Umverteilung organisieren.
Wie gross ist die Ting Community mittlerweile, und wie viele Personen könnt ihr unterstützen?
Das Projekt haben wir im Jahr 2020 mit einem silent launch gestartet, und die Community wächst seither stetig, was bedeutet, dass wir immer mehr Geld umverteilen und mehr Menschen unterstützen können. Aktuell haben wir 433 Mitglieder und sprechen im Monat CHF 34’000 an Fördergeldern. Wir konnten bisher 45 Personen finanziell unterstützen. Gemeinsam haben wir so rund CHF 400’000 innerhalb der Community umverteilt. Es ist unglaublich schön zu sehen, was für Vorhaben umgesetzt werden und wie sich das Wesen der Personen verändert, die Unterstützung bekommen. Wenn du weisst, dass du eine Community hast, die dich unterstützt, passieren wundersame Dinge, Türen öffnen sich, Biografien verändern sich, neue Ideen werden getestet.
Was für „Success Stories“ kannst du uns aus der Ting Community erzählen?
Eine junge Frau konnte ihren Job aufgeben, der sie psychisch belastete, und gleichzeitig ihre Selbstständigkeit aufgleisen. Mit der Sicherheit der Community hat sie ihre gesamte Lebenssituation so verändert, dass sie auch aufgehört hat, Nägel zu beissen, Alkohol zu trinken, und begann, Sport zu treiben. Das nur mit einem bisschen Geld. Eine andere Frau tauschte den Job mit ihrer stellvertretenden Geschäftsführerin, um sich Zeit für ihre Tätigkeit als Journalistin und Moderatorin in Inklusionsthemen zu verschaffen und an einem Sachbuch zu schreiben. Inzwischen hat sie sich ganz selbstständig gemacht und lebt nun von ihrer neuen Tätigkeit, mit welcher sie wichtige Aufklärungsarbeit in einem Bereich leistet, der anhin zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Die Vorhaben umfassen aber auch Themen wie Foodkooperationen, nachhaltige Architektur, Apps, Plattformen, psychische Gesundheit, Landwirtschaft, Ernährung, Bildung, Aufklärung, you name it. Denn die Mitglieder haben verschiedene Interessen und Fähigkeiten. Sie setzen um, was ihnen unter den Nägeln brennt, was sie aber bis anhin nicht umsetzen konnten. Die Krux bei diesen Beispielen? Keine. Es funktioniert! Es ist möglich, das zu tun, was man als sinnhaft erkannt hat. Aber es erfordert genügend finanzielle Stabilität, um das Risiko eingehen zu dürfen. Unser Projekt schliesst eine Lücke. Weil wir als Community diese Art von Risiko und Veränderung finanziell ermöglichen, damit mehr Menschen die Möglichkeit haben, sinnhaft tätig zu sein und neue Ideen voranzutreiben, die gesellschaftlichen Wert haben.
Was ist eure grösste Challenge?
Geld! (lacht) Unser Businessmodell ist selbsttragend, wenn wir unsere monatliche Burnrate mit rund 2.500 Mitgliedern decken können. Zurzeit werden wir vom Migros-Pionierfonds mit einer Anschubfinanzierung unterstützt, aber diese Unterstützung wird enden, und wir benötigen einen neuen Förderpartner, bis wir unser Ziel erreicht haben. Wir sind auf der Suche nach Stiftungen, Gönner:innen, Institutionen, die unsere Arbeit unterstützen. Wir merken aber, dass der Zweck von vielen Stiftungen zu eng für unser Projekt gefasst ist. Wir fördern zum Beispiel Selbstständigkeit, aber auch Bildung und psychische Gesundheit und weitere Themen, die ich oben genannt habe. Das sprengt dann den Rahmen der eng gefassten Stiftungszwecke. Zusätzlich ist unser Ansatz zu neu, als dass es Stiftungen gäbe, die eine solche Idee bei ihrer Gründung hätten im Stiftungszweck berücksichtigen können. Unser Problem ist, dass wir nicht in die traditionellen Muster passen und vielleicht der Zeit etwas zu voraus sind. Die Förderlogiken der Stiftungen greifen für uns nicht, obwohl unsere Idee durchweg auf positives Feedback und manchmal regelrechte Begeisterung stösst. Das ist eine Challenge. Darum sind wir glücklich, bereits eine erste Privatperson gefunden zu haben, die uns als Grossspenderin monatlich mit einem substanziellen Betrag unterstützt. Davon bräuchten wir mehr.
Wie kann unsere Community euch unterstützen?
Die Ting Community als Enablerin ab 10 CHF pro Monat oder als Grossspenderin unterstützen! (Gelächter) Zudem sind wir auch auf der Suche nach jemandem, der uns dabei hilft, eine Studie durchzuführen, die wissenschaftlich festhält, was unser Impact ist. Wir sehen die Selbstwirksamkeit, Zufriedenheit, Vernetzung der Mitglieder steigen. Das Gefühl von Ohnmacht reduziert sich, die Hoffnung, selbst etwas in unsicheren Zeiten beizutragen, steigt. Was wir heute anekdotisch erzählen, wollen wir wissenschaftlich untermauern können.
Wir möchten in der Mitte der Gesellschaft ankommen und auch bei Menschen ein Begriff sein, die sich nicht per se mit Zukunftsthemen auseinandersetzen. Wir werden uns vermehrt in den Diskurs einbringen wollen, wie man unsere Gesellschaft gestalten kann. Besonders was die Aktivierung der einzelnen Menschen mit ihrem innewohnenden Potenzial für Innovation betrifft. Denn wir alle wollen mitgestalten und sollten das können dürfen.
Ondine Riesen, 42, lebt mit ihrem Partner Roman Tschäppeler und ihrem gemeinsamen Sohn in Biel. Würde sie nicht mit Ting und als Coach Menschen befähigen, ihrer intrinsischen Motivation zu folgen, würde sie hauptberuflich Fragen stellen und für immer mit inspirierenden Menschen ausgiebig essen gehen wollen.