Lange Zeit war „Individualität” – anders als die anderen auszusehen – die grosse Sehnsucht und das Nonplusultra in unserer Gesellschaft. Diese Doktrin wurde zu einem regelrechten Zwang und diktierte in den letzten 20 Jahren Milieu- und Generationenzugehörigkeit. Inzwischen haben sich diese Grenzen dank der virtuellen Welt beinahe komplett aufgelöst und die Milieuzugehörigkeiten vermischen sich wieder von Neuem.
Wenn Hornbrillen und Bärte Mainstream werden
So kam es auch, dass alle plötzlich Hipster wurden und Hornbrille, Vollbart, Tattoos, tote Bag und enge Skinny-Jeans trugen. Egal, wohin man kam und in welcher Stadt man war, die Optik war die gleiche. Sie war nicht nur virtuell auf allen Fashionblogs, sondern auch in der realen Welt – in den Szenecafés, an Vernissagen, auf dem Gemüsemarkt, in illegalen Restaurants, Clubs und Bars – zu finden. Praktisch jeder Grossstadtbewohner unter 50 sprang auf den Hipster-Zug auf. Was einst als „alternativer“ Look einer kleinen Gruppe begann, der individuell, authentisch und als Gegenbewegung zur Masse gedacht war, wurde in Rekordzeit zum Mainstream. Neben der grossen Sehnsucht nach Individualität in unserer Gesellschaft, die sich heute nur noch in Nuancen unterscheidet, geht es schliesslich immer wieder um die vielfach kodierten Informationsträger, die klar signalisieren, wer man ist. So ist es nicht verwunderlich, dass die Inflation der Andersartigkeit dazu führt, dass die junge Generation keine Lust mehr hat, etwas Besonderes zu sein und „Normcore” als Gegenreaktion entsteht.
„Individualität” – anders als die anderen
Vielleicht ist es aber auch eine der Auswirkungen der lang anhaltenden Finanzkrise und der Wegwerfmentalität der letzten Jahrzehnte. Seit den 90ern wird es immer schwerer, Authentizität und Individualität von neuem glaubhaft zu entwickeln. Die Lifestyleindustrie greift vor allem nach Revivals, Pseudoinnovationen oder dem sogenannten „Mix and Mash”- Trend. Obwohl durch das internet und die Globalisierung die Verbindung mit anderen einfacher als je zuvor wurde, ist die Distinktion nahezu unmöglich und die Individualität des einzelnen ist endgültig in Frage gestellt. Zusätzlich verstärkt wurde das Ganze durch die quasi in Echtzeit auf jedes subkulturelle Phänomen reagierende Warenwelt. Mit einem Klick verbreitet sich in Zeiten von Instagram, Pinterest und Modeblogs der neueste Trend in Rekordzeit vom Szenecafé in Kopenhagen bis in den hintersten Winkel der Welt. Und dank Topshop und Zara ist er für jeden konsumier-, kopier- und zahlbar. Das ist ein Grund, weshalb die Hipster der Metropolen weltweit alle gleich aussehen.
„NORMCORE” – ein weltweiter Begriff
Der neueste Hype (2014) „Normcore“ kommt aus Brooklyn, dem angesagtesten Viertel von New York und der Geburtsstätte des Hipstertums. Dank unzähligen Klicks ist „Normcore” inzwischen zum weltweiten Begriff geworden. Der Hybrid aus „Normal“ und „Hardcore“ steht für eine unscheinbare, vollkommen langweilige „Normalo-Generation”. Erstmals tauchte das Wort „Normcore” im Oktober 2013 bei K-Hole auf der Website der fünf Mittzwanziger-Kulturstrategen auf, die sich in der Grauzone zwischen Marketing und Kunst bewegen und diese zwei Welten zu verbinden versuchen. „Normcore” ist eigentlich kein Fashiontrend, wie oft vermutet, sondern die Aufschlüsselung einer neuen Gesellschaftsentwicklung. Anders als noch die üblichen Marketingkonzepte des 20. Jahrhunderts, wo es um das Generation-Branding ging, handelt es sich bei „Normcore” um die Öffnung sozialer Grenzen und deren Vermischung, was sich schliesslich auch in der Bekleidung widerspiegelt. Erst das Erscheinen des Artikels von Fiona Duncan unter dem Titel „Normcore: Fashion of those who realize they’re in 7 Billion” am 24. Februar 2014 im einflussreichen „New York Magazine” initiiert den globalen Siegeszug dieses Begriffes. Die Autorin begann ihren Artikel folgendermassen: „Irgendwann im letzten Sommer fiel mir auf, dass ich von hinten nicht mehr zu sagen wusste, ob die Fussgänger in SoHo Hipster oder mittelamerikanische Touristen mittleren Alters waren. Gekleidet in ausgewaschene Jeans, Fleece und gemütliche Sportschuhe, sahen beide so aus, als ob sie nach einem Einkaufsbummel auf dem Times Square gerade aus der U-Bahn gestiegen wären.” Kaum war der Artikel online gestellt, verbreitete sich „Normcore” schlagartig innerhalb weniger Tage über das gesamte Netz, aufgegriffen unter anderem von Guardian, Telegraph, Buzzefeed und vielen anderen. Schon bald war der Begriff nur noch auf einen neuen Modetrend reduziert und weltweit auf allen wichtigen Fashionsblogs in verschiedensten Interpretationen anzutreffen.
Wenn Normalität zum Luxus wird
Sogar Karl Lagerfeld verwandelte das Grand Palais für seine Prêt-à-porter Show 2014/15 in ein gut sortiertes „Chanel Shopping Center”, gespickt mit Gütern des täglichen Bedarfs. Zum Sortiment gehörten voll bestückte Regale mit alltäglichen Produkten wie Waschmittel, Nudeln, Reis, Spirituosen, Kopfhörer und Kettensäge, in extra entworfenen Verpackungen, versehen mit dem begehrten Chanel Logo. Auch dies vielleicht ein Auswuchs des „Normcore”-Trends, und so verwundert es nicht, dass Lagerfeld seine models in Turnschuhen zu so etwas Profanem wie zum Einkaufen in diese Supermarktkulisse schickte. Doch Normalität ist nicht wirklich neu, sondern fasziniert jede Generation aufs Neue, wie einst schon die Campbell Soup von Andy Warhol aus dem Jahre 1962 für Aufsehen sorgte oder das inzwischen für 3,3 Millionen Dollar gehandelte Fotokunstwerk „99 cents” von Andreas Gursky von 1999.
Generation „BLAND – NORMCORE”
Doch bereits im Februar 2013 erklärte Li Edelkoort, eine der wichtigsten Trendforscherinnen unserer Zeit, in Paris das Thema „BLAND” – fade oder langweilig – zum Trend für eine neue Generation, welche vom Internet absorbiert werde und deswegen nur virtuell und mental existiere. Deswegen müssen die neuen Outfits für sie fade, normal und uninteressant wirken. Diese Generation will höflich, angepasst und unauffällig sein, in der Masse untertauchen und so das Individuum schützen. Und sie will keiner klaren sozialen Angehörigkeit zugeordnet werden. Daher ist es Aufgabe ihrer Bekleidung, klar zu signalisieren, dass kein Interesse an Fashion bestehe. Ordentlich geglättete Röcke, strenge Zigaretten-Hosen wie die eines Rentners, Sneakers, Poloshirts und Sweaters aus Ton-in-Ton melierten Garnen sollen den Fokus dieser langweiligen Schönheit darstellen. Unauffälligkeit und Anpassung erscheinen erstrebenswert. Die Begleitworte lauten „Bland”, „Normcore”, „Frumpterable” – von frumpy, was zu deutsch: „altbacken” heisst. Aber was will nun diese neue Generation der „Normcore” uns sagen? Dass Marken und Statussymbole nicht alles sind, sondern nur die inneren Werte zählen? Dass die exzessive Suche nach Individualität zur Normalität führt?
Die Sehnsucht nach Normalität
Plötzlich wollen Subkulturen ganz normal sein und Filterkaffee trinken wie zu Grossmutters Zeiten. Sie wollen Gemeinschaft und Regionalität, Empathie, Teilen und Vernetzung. Gesundheit wird grossgeschrieben, man isst nicht nur biologisch bewusst und vegetarisch, sondern wird gleich Veganer. Und in allen Metropolen stehen genügend Fahrradständer vor den hübschen kleinen Shops. Es ist auch viel beglückender, bei Pinterest den selbstgepflückten Blumenstrauss vom Biobauern zu posten, als irgendwelche vermeintlichen Statussymbole. Und so kommt es, dass Birkenstock-Schuhe in Metalloptik zum It-Piece unserer Zeit wurden. Diese Lebenseinstellung drückt im Grunde genommen die Sehnsucht nach der heilen, sicheren Welt des Kleinbürgertums von gestern aus. Diese Normalität signalisiert nun die neue Selbstsicherheit sowie Lässigkeit. Sie gehört zum täglichen Leben und dient als Anker in unserem stürmischen und anstrengenden Alltag und als mittel gegen Zukunftsängste.
Charlotte Gainsbourg hat mit CURRENT/ ELLIOT zusammen ihre eigene Signature Kollektion entworfen. Charlotte hat jedes teil zu 100 % nach ihrem eigenen Stil designt und ihren maskulinen French Chic kompromisslos umgesetzt.
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