Andere Studien gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der US-Bevölkerung unter traumatischem Stress leidet (Quelle: www.harvardpublichealth.org/mental-health/the-age-of-trauma/).
Trauma wird hier als eine stark emotionale Reaktion auf einschneidende Erlebnisse verstanden, welche eine Person überfordern. Solche Erfahrungen können dazu führen, dass wir uns in Situationen „gefangen“, machtlos und unsicher fühlen. Problematisch ist dabei, dass es Auslöser (sog. „Trigger“) geben kann, die die überfordernden Erfahrungen immer wieder aufleben lassen. Unser Nervensystem reagiert dann mit erhöhtem Stress, wobei die Amygdala im traumatisierten Gehirn eine fiktionale Situation nicht mehr von der realen Gefahr unterscheiden kann. Man fühlt sich erneut bedroht, obwohl gar keine Gefahr (mehr) besteht. Unser Filtersystem im Gehirn erkennt nicht mehr, was relevant ist. Es fällt uns schwer zu fokussieren.
Typische Auslöser für das Wiedererleben von Trauma sind Reizüberflutung und Kontrollverlust. Die „Trigger“ hierfür liegen oft in unserer Umgebung sowie in den (physischen oder digitalen) Produkten um uns herum. Unser Umfeld ist eng mit unserer Physiologie und unserem emotionalen Zustand verknüpft und übt so einen erheblichen Einfluss auf unsere Stimmung, unsere Einstellung und unser Verhalten aus.
Wie kommen wir aus diesem Trauma wieder heraus?
Hier kommt das Produktdesign ins Spiel, und zwar das sogenannte „trauma-bewusste“ Design.
Ziel des trauma-bewussten Designs sind Produkte, welche vor allem zwei Dinge ausstrahlen: Sicherheit und Stabilität. Umgesetzt werden diese Ziele durch die Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (unter anderem aus der medizinischen Traumatherapie) im Design.
Hier einige Beispiele, welche Erkenntnisse das sind, die unsere Wahrnehmung beeinflussen können:
Reduktion der mentalen Last: Traumatische Erfahrungen können überwunden werden, indem Nutzer mental entlastet werden. In der Designpraxis bedeutet dies zum Beispiel, dass mit einer Farbwelt gearbeitet wird, die auf kühlere und leichtere Farben (wie Blau, Grün oder Violett) setzt und die optische Komplexität von Produkten weitgehend reduziert. Eine gewisse Regelmässigkeit in Bezug auf formale Gestaltungselemente wirkt stressreduzierend. Auch das Re-Design komplizierter Produkte für mehr Einfachheit (etwa im Zusammenbau oder in der Entsorgung) kann vor Überforderung schützen. Ebenso wie eine intuitive „Wahrnehmbarkeit“ dessen, wie ein Produkt funktioniert oder reagiert, Nutzern Orientierung bieten kann.
Nutzung sogenannter „Cues“ in der Gestaltung: Cues sind „Hinweise“, welche Nutzer zu einer bestimmten Handlung auffordern. Sie können z. B. die Form von Pop-ups auf einer Website oder von Bedienknöpfen an einem Gerät annehmen, welche bewusst in Farbe, Form und Platzierung gestaltet sind. Design kann eine positive Verbindung zwischen einem Hinweis und einer Aktion gezielt schaffen. Clever eingesetzt können Cues (neue) Gewohnheiten formen, welche dabei helfen, Traumata zu lösen. Auch Gerüche oder Geräusche kommen hier zum Einsatz, um mithilfe positiver Assoziationen die Traumabewältigung zu fördern.
Vertrauensbildung durch Design: Produkte müssen mehr denn je darauf ausgelegt werden, intuitiv Vertrauenswürdigkeit auszustrahlen. Für das Design digitaler Produkte bedeutet dies zum Beispiel eine offensichtliche und glaubwürdige Umsetzung von Massnahmen, welche die Privatsphäre der Nutzer schützen. Bei physischen Produkten geht es vielfach darum, dass deren Herkunft, Nachhaltigkeit und Nutzen zweifellos transparent gemacht werden.
Fokus auf Komfort und Stressreduktion: Möglichkeiten, Stress zu lindern, liegen vornehmlich in Entscheidungsarchitekturen. Zu viele Auswahlmöglichkeiten im Produkt führen zu Stress. Denken wir an die Frustration, wenn wir bei Starbucks stehen und uns zwischen scheinbar unzähligen Kombinationsmöglichkeiten eines Kaffeegetränkes entscheiden müssen. Hier ist weniger oft mehr. Das Design eines Versicherungsvertrages kann Stress reduzieren, indem die gelieferten Informationen auf das absolute Minimum beschränkt oder Auswahlmöglichkeiten stark eingegrenzt werden.
Fokus auf Personalisierung: Personalisierung gibt Nutzern das Gefühl, dass ein Produkt individuell und ganzheitlich auf sie zugeschnitten ist. Gleichzeitig bietet sie Raum, selbst zu gestalten, und damit dem Nutzer das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Beispielsweise dann, wenn man auf einer Website bestimmte Werbung oder Nachrichten zu belastenden Themen einfach ausschalten kann.
Design für das „Schöne“: Ein Design, welches abseits aller Analytik die Schönheit betont und sich einfach „gut“ anfühlt, kann aus dem Trauma helfen. Gerade in traumatischen Situationen verlernen wir, Schönheit wahrzunehmen. Umso wichtiger wird es, wieder mehr schöne Produkte zu entwickeln.
Die Forschung zeigt: Gesunde empfinden in schönen Umgebungen weniger Stress und mehr Glück, Kranke genesen schneller. Der Höhepunkt des trauma-bewussten Designs ist es also, in einem unscheinbaren Produkt die Schönheit für andere sichtbar zu machen.
Herausfordernde Zeiten erfordern Ansätze abseits vom Standard. Ein (Produkt-)Design, welches das Vorliegen von Trauma erkennt, anerkennt und darauf eingehend reagiert, kann viel zur Traumabewältigung beitragen.
Wo es Trauma gibt, gibt es Raum für Heilung.
Dr. Teresa Valerie Mandl
ist gebürtige Deutsche und wohnhaft in Zürich.
Seit 2003 führt sie mit T.V.T swissconsult ihre eigene Firma im Bereich Unternehmensberatung für Innovationsmanagement, Produkt- und Dienstleistungsentwicklung. Darüber hinaus ist sie u. a. Dozentin an der Hochschule Luzern sowie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.