Post-Traumatic Growth – Sue Bertschy

Idee & Realisation:
Sandra-stella Triebl
Foto & Post: Tomek Gola / www.gola.pro
Colorising: Sofia Romero
Make-up: Angela Meleti

Ladies Drive Magazine - Dr. Sue Bertschy
Ladies Drive Magazine
Sue Bertschy portraitiert und interviewt zum Thema "Post Traumatic Growth" in der Ausgabe No 61 (Frühling 2023).

Dr. Sue Bertschy

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Corporate Health Consulting, Inhaberin

Es ist wichtig, die eigenen Trauma-Erfahrungen nicht zu bagatellisieren und sich die Zeit zu nehmen, sie richtig zu verarbeiten.“

Post-Traumatic Growth (PTG) bedeutet für mich, dass jemand einen Weg gefunden hat, seinen Erfahrungen einen neuen Sinn zu verleihen, um sein Leben anders zu gestalten als vor dem Trauma. In meinem Fall führte das Trauma zu mehr Achtsamkeit und Dankbarkeit für das Leben und den gegenwärtigen Moment sowie zu einer Konzentration auf die Beziehungen, die Vorrang haben sollten – vor allem zu Menschen, die in schwierigen Zeiten für mich da waren und es zukünftig sein werden. Ich empfinde eine tiefere Liebe für diese Menschen.

Ich entwickelte auch den Wunsch, anderen zu helfen und etwas zurückzugeben. Ich bin für meine Lieben da und kämpfe wie eine Löwin für sie. Ich habe auch mehr Wertschätzung für das Leben, mehr Selbstbewusstsein und mehr Mitgefühl für andere. Ich hatte den Mut, einen völlig neuen Weg einzuschlagen. Ich bekam die Gelegenheit, die Karten neu zu mischen, und es ist okay. Die Persönlichkeitsentwicklung dauerte etwas länger. Ich brauchte einige Jahre, bis ich einigermassen wusste, wohin mein Weg führen sollte. Ich musste für mich herausfinden, was mir nun im Leben Spass macht, wie ich mein Selbstvertrauen (wieder)finde, mich neuen Herausforderungen stelle, um ein neues Gefühl der Stärke zu entdecken.

Vor 23 Jahren hatte ich einen Verkehrsunfall und lebe seither mit einer Paraplegie. Im Alltag bin ich dauernd auf einen Rollstuhl angewiesen. Beim Aufwachen aus dem Koma verstand ich die Welt nicht mehr. Ich lebte in einer mir unbekannten Hülle. Diese Hülle konnte selbstständig nicht mehr viel tun. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren. Mein Körper reagierte nicht mehr auf meine Befehle. Ich fühlte mich ohnmächtig und leer. Ich war nicht nur physisch, sondern auch psychisch taub. Die Affekte sind abgestumpft, und ich war gegenüber den Sorgen und Freuden der Welt um mich herum immun. Ich hatte nicht mehr dieselben Gefühle wie früher. Freude, Tod … nichts betraf mich mehr so wie vor dem Unfall.

Ich vernachlässigte meine Interessen oder anders gesagt, ich kannte sie nicht mehr. Ich machte keinen Sport mehr, ging nicht aus. Ich machte einfach nichts mehr. Ich wollte den ganzen Tag im Bett bleiben, schlafen und am liebsten nicht aufwachen. Meine Freunde und Familie machten mir zwar immer noch Freude, aber abgesehen davon war alles in meinem Leben, wofür ich mich früher interessiert hatte, zerstört. Ich liebte es, draussen zu sein. Sport zu treiben. Auf Reisen zu sein. Vielfältigkeit. Aber nun war ich an einem Punkt angelangt, wo mir das alles nicht mehr das Geringste bedeutete.

Die Menschen um mich herum überhäuften mich mit Aufmunterungen und Zusprüchen wie: „Du kannst das; wenn es jemand schafft, dann du; ich bewundere dich …“ Dieser Hype und die Heroisierung führten zu einem mir selbst aufoktroyierten Erfolgszwang. „Ich muss alles schaffen, sonst enttäusche ich mein Umfeld.“ Um diese Rolle zu erfüllen, habe ich meine inneren Werte und Belastungsgrenzen ausgereizt. Ich wurde zu einem Terminator.

Ich mochte diese Figur nicht. Es brauchte einige Zeit und Mut, um dieser Figur zu sagen: Du kannst mich mal. Ich will nicht mehr diese Figur sein. Ich will diesen Avatar, den ich geschaffen hatte, nicht mehr hochhalten. Ich will einen neuen Avatar.

Traumata wirken sich auf jeden von uns anders aus. Wir dürfen unser Leiden nicht unterdrücken oder ignorieren. Ich hatte mein Trauma und seine Auswirkungen heruntergespielt. Dies führte dazu, dass ich nicht in der Lage war, meine negativen Emotionen auf gesunde Weise auszudrücken. Ich verringerte somit meine Chancen, von PTG zu profitieren. Es ist jedoch wichtig, die eigenen Trauma-Erfahrungen nicht zu bagatellisieren und sich die Zeit zu nehmen, sie richtig zu verarbeiten, anstatt überstürzt einen falschen Optimismus zu entwickeln. Während dieses Prozesses haben mich unterschiedliche Leute begleitet. Unterstützung fördert Resilienz. Zur Selbstreflexion brauche ich aktive Zuhörer. Diese erlebte Bindung hilft mir.

Nach meinem Trauma war mein persönliches Unterstützungssystem stark. Mein Netzwerk bestand aus Familienmitgliedern, Freunden, und ich nahm auch psychologische Hilfe in Anspruch.

Ich bin ein sehr offener und neugieriger Mensch und nutze meine Glaubenssysteme (Gutes kommt wieder; nicht in Negativität verharren). Als extrovertierter Mensch neige ich dazu, eine Reaktion zu initiieren und aktiv soziale Kontakte zu suchen. Ich bin ein Stehauf-Frauchen, optimistisch und zukunftsorientiert. Von der Vergangenheit kann ich lernen, aber ich lebe im Jetzt und kreiere mir meine Zukunft. Darauf zu warten, dass jemand anderes dies für einen übernimmt, ist reine Zeitverschwendung. Ich reflektiere meine Gedanken und analysiere erlebte Rückschläge, indem ich potenzielle, andere Reaktionen durchspiele, um zu trainieren, lösungsorientierter zu denken.

Die Verbundenheit zur Natur ist mein Lebenselixier. Regelmässig draussen zu sein und Sport zu treiben ist lebenswichtig. Ich pflege ein feines Netzwerk von geliebten Menschen. Auch heute berichte ich noch regelmässig über meine Erfahrungen in Kursen und Vorträgen. Die Selbsterfahrung macht die Kurse authentisch.


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Weitere Interviews in der Serie „Post-Traumatic Growth“:

Veröffentlicht am März 04, 2023

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