Es dauert Sekunden, bis der dünne Hautfetzen reisst. Oberlid und Unterlid des linken Auges trennen sich. Es braucht Zeit, bis die Pupille erscheint, bis auch das rot geäderte Weiss des Augapfels zu sehen ist. Das rechte Auge bleibt noch geschlossen hinter geschwollenen Lidern.
Wie in Zeitlupe vernehme ich meinen Namen: „Patti!“, und dann „Wasser“. Schwer erhebt sich die Hand mit den Schläuchen. Zeitlich verrückt zum Text, asynchron zeigt sie auf einen Becher. Im Hintergrund das gurgelnde Rauschen eines Absaugeschlauchs und rhythmisches Piepsen.
Das Trinken geht nicht schnell. Einzelne Schlucke, durch den Strohhalm in den Mund geführt, wie in der Schwerelosigkeit eines Weltallflugs. Derweil schickt ein Tech-Milliardär einige Frauen in einer Rakete ins All. Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei und die Hobby-Astronautinnen gewinnen wieder Boden unter den Füssen. Ein Schnellschuss, vermarktbar und instagrammable. Immer schneller, höher, weiter – wie die Werbung eines Energydrink-Herstellers. Falscher phallischer „Fe-mini-nismus“ in kleinen Dosen.
Meine Schwester bekommt davon nichts mit. Sie fühlt sich selbst wie eine Astronautin, „verloore wi’ne Gagu“, sang Stiller Has, „schwäbe’n’ig dür ds läären’ All“. Das habe sie geträumt, wird sie später erzählen. Ein Weltraumflug, abgetrennt von Zeit und Raum, so habe sie sich gefühlt auf der Intensivstation, angehängt an Schläuche und Maschinen. In ihrem Kopf arbeitet es. Träge und mit grosser Kraftanstrengung formuliert sie eine Bitte: „Moderierst du die Landwirtschaftstagung für mich?“ Trotz Fentanyl, Opiaten, Hirnblutung, Hämatom, Schädel-Hirn-Trauma und tagelangem Koma sind ihre Prioritäten noch klar. Zuerst hat sie nach ihrem Mann gefragt, danach sofort nach ihrer Verbandstätigkeit. Das passt zur Intensivstation, auf der sie liegt. Da wird keine Pflästerli-Politik betrieben, da braucht’s einen starken Verband. Langsamer und träger als ein Pflaster, dafür auch langlebiger. „Gut Ding will Weile haben“, lehrte unsere Grossmutter jeweils, „mache langsam, es pressiert!“
Gepresste Worte aus den trockenen Lippen, die zu einem lallenden Ring geformt sind, reduzierte Sprache, aufgedunsenes Gesicht: Meine Schwester erinnert mich fern an den amerikanischen Präsidenten. „Du kannst auch mit reduzierter Hirnleistung wieder in die Politik einsteigen“, tröste ich sie, „vielleicht musst du einfach den Kontinent wechseln, damit es nicht auffällt.“ Die grosse, starke Schwester, denke ich, als ich ihr zart übers Gesicht streichle; sie, die immer schnell ist, beim Spazieren, beim Denken und beim Handeln. „Gut siehst du aus“, sage ich, „faltenfrei durch die Schwellung im Gesicht, zehn Jahre jünger!“ Obwohl sie auch sonst oft für meine jüngere Schwester gehalten wird, die blöde Kuh. An all das wird sie sich später nicht mehr erinnern. Das Postkoma wird noch einige Tage andauern, und mit Postkoma meine ich nicht die aussterbende Briefzustellung auf dem abgelegenen Bauernhof der Schwester.
Wahrscheinlich „hatte es pressiert“, als meine Schwester die Rinder füttern wollte und von der Heubühne fiel, sie erinnert sich nicht mehr. Ihr Bewusstsein hat sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen, damit der Körper langsam wieder gesunden kann. Sie erinnert sich nicht daran, wie ihre Rückenwirbel, mehrere Rippen und ihr Schädel brachen oder wie sie mit dem Helikopter ins Spital geflogen wurde. Letzteres ist natürlich schade, denn für einen Helikopterflug würde sich so ein Unfall ja noch lohnen. Der Flug ist ohnehin nicht immer das Entscheidende. L’important, c’est pas la chute, l’important, c’est l’atterrissage. Wir möchten einfach landen. Auch bei jenen, die uns gefallen. Es muss nicht immer schnell gehen, wir wollen einfach ankommen. Am Ziel oder beim Publikum.
Boden gewinnen und Schritt für Schritt vorwärtskommen.
So wie meine bewundernswerte grosse Schwester, welche wieder gesund wird. Sie macht langsam, denn es pressiert. Es braucht mehr denn je gute Politikerinnen. Und starke Verbände.
* Meine grosse Schwester Colette Basler, Verbandspolitikerin für Landwirtschaft und Bildung, als Präsidentin von Bildung Aargau oberste Lehrerin des Kantons, hatte diesen Frühling einen schweren Unfall. Wir bangten erst um ihr Leben, fürchteten auch, dass sie querschnittsgelähmt und dauerhaft hirngeschädigt sein könnte. Wie durch ein Wunder konnte dies abgewendet werden, und sie wird wieder ganz gesund.