Bei denen die Leaderinnen und Leader nuanciert in Worten ausdrücken, was sie erleben und wahrnehmen, und damit eine breite und reiche Erfahrungswelt für Organisationsmitglieder schaffen, diesen helfen, sich zu orientieren, ihnen Sicherheit geben und sie durch Krisen navigieren? Ja, diese Organisationen existieren und sie sind – aus gutem Grund – die ältesten Organisationen, die bis heute überlebt haben. Es handelt sich um Klöster. Was zeichnet diese resilienten Organisationen aus und können wir etwas lernen?
Die ersten Klöster entstanden vor mehr als 1.500 Jahren als Antwort auf die damalige unruhige, sinnentleerte Zeit: Sie versprachen ein gemeinsames Orientierungs- und Wertesystem. Und hielten ihr Versprechen. Im Durchschnitt werden Klöster mehr als 500 Jahre alt. Das ist zehnmal länger als eine durchschnittliche moderne Aktiengesellschaft. Klöster überlebten diverse Krisen und gesellschaftlichen Wandel wie Reformation, Säkularisierung, Einführung moderner Technologien wie Buchdruck, Schifffahrt oder Eisenbahn. Auch heute geben diese Halt: Klöster pflegen einen bewussten Umgang mit digitalen Technologien, indem sie diese weder verteufeln noch als Lösung für alles hochloben, und schaffen spirituelle und ökologische Angebote, um dem beschleunigten Zeitgeist zu trotzen. Zu denken sei an das Kloster auf Zeit für gestresste Managerinnen und Manager.
Warum sind Klöster derart resilient? Weil sie einen „Purpose“ haben und diesen auch leben! Klostergemeinschaften orientieren sich an den Regelwerken ihrer Ordensgründer. Bemerkenswert ist, dass diese Regelwerke oft mehr als 1.000 Jahre alt sind und auch heute noch Aktualität haben. Diese Ordensregeln drücken nuanciert in Worten aus, was Organisationsmitglieder erleben und wahrnehmen, und geben damit einen breiten und reichen Erfahrungsschatz weiter. So berichteten uns Benediktinermönche, dass sie nur in die Benediktinerregel schauen müssten, um zu wissen, was Benedikt zum Umgang mit digitalen Medien im Kloster gesagt hätte. Sie ersetzen das Wort „Alkohol“ durch „Internet“, und die Regel trifft auch heute zu. Die Regelwerke der Klöster sind also allgemeingültig und dauerhaft. Diese rennen – im Gegensatz zum „Purpose“ vieler Unternehmen – nicht der neuesten Managementmode hinterher.
Dabei nutzen die Regelwerke der Klöster in der Tat oft eine emotionale Sprache. So spricht die Benediktinerregel von der Liebe zur Gemeinschaft, Demut und Bescheidenheit als innerer Haltung der Mönche, innerem und äusserem Frieden als zentralem Anliegen, Gastfreundschaft, Hingabe und Loyalität oder der Förderung von Eintracht und Harmonie. Allerdings entfaltet emotionale Sprache allein noch keine normative Bindungskraft – und damit keinen „Purpose“. Hierfür benötigt es zusätzlich allgemeingültige Regeln, welche in konkreten Handlungs- und Verhaltenssituationen zur Anwendung kommen sollten. Die Regeln der Ordensgründer tun dies. Mithilfe emotionaler Sprache werden zentrale Themen in Organisationen adressiert, so Konflikte um Macht, Einfluss, ökonomische Ressourcen, Verteilung, Anerkennung oder soziale und kulturelle Unterschiede. Dies sei an folgenden Beispielen aus der Benediktinerregel verdeutlicht: „Sobald ein Gast gemeldet wird, sollen ihm daher der Obere und die Brüder voll dienstbereiter Liebe entgegeneilen.“ „Der Abt soll also alle in gleicher Weise lieben, ein und dieselbe Ordnung lasse er für alle gelten – wie es jeder verdient.“ „Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und selbst darlegen, worum es geht. Er soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zurate gehen.“ Ein Wertesystem oder „Purpose“ beruht somit auf einem in sich stimmigen Regelgerüst, welches oft durch emotionale Sprache vermittelt wird.
Aber auch die Ordensregeln der Klöster wären totes Papier, so wie die Tonnen an Richtlinien, Missionen und Visionen moderner Unternehmen, sofern man diese nicht gemeinsam leben würde. Klöster stellen dies durch vielfältige Sozialisationsinstanzen sicher und nehmen sich hierfür Zeit. Zeit, die in der beschleunigten Welt des heutigen Business nicht mehr vorhanden scheint. So treffen sich beispielsweise die Benediktiner und Benediktinerinnen täglich zur gemeinsamen Tischvorlesung. Bei dieser liest jeweils ein Mitglied aus der gemeinsamen Regel und ordnet diese in den aktuellen Organisationsalltag ein. Hierdurch erlangen die Mitglieder nicht nur gemeinsames Wissen über die Regel, sondern schaffen sich auch eine gemeinsame Erfahrungswelt, wie diese Regel im Konkreten auszulegen und anzuwenden ist.
Aber ist so etwas heute – in Zeiten von Homeoffice, flexiblem Arbeiten, Fast Food, Speeddating, Powernap, Multitasking … – noch denkbar und realistisch? Ich weiss es nicht. Fest steht, wenn Sie gemeinsame Werte – oder nennen wir es einen „Purpose“ – in Ihrer Organisation leben möchten, benötigen Sie neben der emotionalen Sprache eines in sich stimmigen Regelgerüstes auch viel Zeit mit Ihren Mitarbeitern. Gemeinsam muss über die Anwendung dieser Regeln und Werte in konkreten Situationen diskutiert werden. Ansonsten bleiben es leere – wenn auch emotionale – Worthülsen.
Und zuletzt verdeutlichen Sie sich auch noch Folgendes: Klöster verstehen Arbeit als Berufung. Sie ist Mittel, um die gemeinsamen Werte leben zu können, um den Geist zu stärken und um wahre Liebe zu erlangen. Aus diesem Grund heisst es auch „Ora et labora“ und nicht – wie von vielen Unternehmen heute vorgelebt – „Arbeite und gib dir einen Purpose“. Mitarbeiter merken das und verhalten sich entsprechend.
Katja Rost
Katja Rost ist Professorin für Soziologie an der Universität Zürich. Sie ist verheiratet und hat einen zehnjährigen Sohn. Vor ihrer Tätigkeit an der Universität arbeitete sie in der Unternehmens- und Politikberatung. Sie wurde in der ehemaligen DDR in Karl-Marx-Stadt geboren und lebte vor ihrer Zeit in Zürich in Gera, Leipzig, Berlin, München, Bern, Mannheim und Jena. Sie pendelt zwischen Zürich, ihrem Arbeitsort, und ihrer Familie in Innsbruck.
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschafts- und Organisationssoziologie. Sie ist Vizepräsidentin des Universitätsrats der Universität Luzern, stellvertretende Vorsitzende des „Center for Higher Education and Science Studies“ sowie Co-Direktorin des universitären Forschungsschwerpunktes „Human Reproduction Reloaded“.