„Die neue Fluidität unserer Gesellschaft“
In unserer immer komplexer werdenden Welt ist nicht nur unser Wissen, sondern unser komplettes Leben „fluider“ geworden. Das Aufbrechen klassischer Strukturen und die Durchlässigkeit von Grenzen werden zu den entscheidendsten Veränderungen unserer Wissensgesellschaft. Dies verändert nicht nur die Haltung jede*s Einzelnen zu ihrer bzw. seiner Arbeit, Selbstbestimmung, Flexibilität und Handlungsfreiheit, sondern auch unser Teamwork, die Kooperationen und Partnerschaften zu Unternehmen. Dadurch verschieben sich die Anforderungen an Arbeitsplätze und deren Bedingungen einschneidend. Arbeit, Freizeit und Wohnen werden unwiderruflich fluider. Unternehmen werden keine geschlossenen Systeme mehr sein, sondern passen fortlaufend ihre Konzepte und Zielsetzung an, was sie wiederum agiler und hybrider macht. Dabei setzen sich ganz neue Arbeitsweisen wie Crowdsourcing, Crowdfunding, Crowdinvesting, oder Co-Creation durch. Dies zieht immer mehr fluide Produkte, Dienstleistungen und Lebensräume nach sich. Dabei fungieren die neuen Lebensräume als unser erweitertes Zuhause. Dessen zentrale Aufgabe ist, unsere Identität und Kultur mit einem neuen Zugehörigkeitsgefühl und Mindset zu festigen. Diese Veränderungen, weg von unserem alten binären hin zum fluiden System, stellen unsere alten Gewohnheiten auf den Kopf und werden zum stärksten Input. Doch je fluider wir werden, umso ruhiger, vertrauter und statischer entwickeln sich die Design-Optiken, mit denen wir uns umgeben wollen, als ob sie uns mit ihrer zeitlos wirkenden Beständigkeit und Altvertrautheit neu verankern könnten.
![Design: Design-Studio Bower. Stuhl: Concrete Melt Chair](https://ladiesdrive.world/wp-content/uploads/2025/02/bower-studios-concrete-melt-chair-21-3-853x1024.jpg)
![Design: Design-Studio Bower. Stuhl: Concrete Melt Chair](https://ladiesdrive.world/wp-content/uploads/2025/02/bower-studios-concrete-melt-chair-17-3-853x1024.jpg)
GENDERSTERNCHEN oder die gegenderte Sprache
Auch die heftig geführte Genderdebatte spiegelt klar diese neue Fluidität unserer Gesellschaft wider. Trotz aller Widerstände etabliert sich das politische Anliegen der geschlechtergerechten Sprache. Seit 2003 nähern sich Universitäten der Gendersprache an. Mittlerweile ist aus „Studenten“ definitiv „Studierende“ geworden. Diese Sprache ist aber nicht nur von Hochschule zu Hochschule und Universität unterschiedlich, sondern auch von Land zu Land. Natürlich ist für die meisten unter uns das Gendern in Texten noch ungewohnt, kompliziert oder wird gar als Gender-Wahn empfunden. Doch der englische Begriff „gender“, der sich in unserem Sprachgebrauch unterdessen verankert hat, zeigt, dass unsere Sprache nicht festgeschrieben, sondern fluid ist. Das heisst, Sprache verändert sich, wir verändern die Sprache und sie verändert uns und unser Denken, was mittlerweile wissenschaftlich belegt ist. Auch Radio und Fernsehen haben die geschlechtergerechte Sprache für ihre Liveinterviews, Moderationen oder Podcasts entdeckt, was gegenwärtig zu einem Schmunzeln verleitet, wenn mit einer Pause beim einzelnen Wort gegendert wird. Ein deutlicher Schub erhielt das Wort Gendersternchen, als es 2018 zum Anglizismus des Jahres gewählt wurde und die rechtliche Einführung der dritten Geschlechtsoption „divers“ dazukam. Zweifelsohne hat der Gebrauch des Gendersternchens immer noch ein hohes Konfliktpotenzial, wie die heftige Auseinandersetzung rund um die Aufnahme des Begriffs in den Duden 2020 zeigte. Momentan balancieren wir in Texten zwischen Gendersternchen, Binnen-I, Gender-Gap, Doppelpunkt, Schrägstrich, Ausrufezeichen, Klammer und Plural. Wir werden sehen, wer das Rennen gewinnt. Das sogenannte „Gendern“ hat definitiv den gesellschaftlichen Konsens bekommen und spiegelt klar den Zeitgeist unserer neuen fluiden Zeit wider, wo kein Stein auf dem anderen bleibt.
„DIVERSITY“ oder die Gender-Identity-Bewegung
Das Gendersternchen ist erst der Anfang dieser neuen Diversity-Debatte. Wir sind längst über die alten binären Mann-Frau-Strukturen hinausgewachsen, wie uns auch die aktuelle „Gender-Identity-Bewegung“ klar signalisiert. Diese verfeinert fortlaufend ihre Kategorien mit neuen Begriffen, Symbolen, Emojis, Flaggen und Wörtern. Damit wird offensichtlich, dass die neue Diversity ein Teil des gesellschaftlichen Wandels geworden ist. Deswegen überrascht es nicht weiter, dass der US-Bundesstaat Washington 2018 „X“ als Geschlechtsmarkierung in offiziellen Dokumenten zugelassen hat. Dieser mutige Entscheid zeigt klar und unwiderruflich, wie fluid, komplex und divers unsere Gesellschaft geworden ist. Denn das Gesetz dazu besagt: „X“ ist gleich ein Geschlecht, das nicht ausschliesslich männlich oder weiblich ist. Es schliesst ein, aber es beschränkt nicht, Intersex, Agender, Amalgagender, Bigender, Pangender, Demigender, Transgender, Genderfluid, Genderqueer, Female-to-Male, Male-to-Female, Neutrois, Nonbinary, Androgyn, drittes Geschlecht, Transsexuell, zwei und nicht näher bezeichnete Geister. Dies wiederum zeigt, wie zentral das Thema des neuen Verankerns ist, um den Überblick zu behalten.
![Vase by Bold Design](https://ladiesdrive.world/wp-content/uploads/2025/02/Vase-by-Bold-Design-866x1024.jpg)
„GLEICHSTELLUNG“. Der Ausdruck von Akzeptanz und Respekt
Es wird in naher Zukunft zur Selbstverständlichkeit gehören, dass Dienstleister offizielle Dokumente „gendergerecht“ formulieren. Ein schönes Beispiel dafür ist die Klage der 83-jährigen deutschen Feministin und Mutter von vier Kindern, Marlies Krämer. Sie verlangte von ihrer örtlichen Sparkasse, in persönlichen Anschreiben als „Kundin“ angesprochen zu werden, statt mit der grammatisch männlichen Wortform „Kunde“. Des Weiteren beanspruchte sie auch die femininen Wortformen „Kontoinhaberin“, „Empfängerin“ für sich. Diese Klage wurde zwar vom obersten deutschen Zivilgericht abgelehnt, zeigt jedoch, wie brisant und breit das Thema in unserer Gesellschaft derweilen angekommen ist. Seit über 30 Jahren kämpfte Marlies Krämer dafür, dass Frauen in Dokumenten und Formularen sprachlich sichtbar werden. Sie ist der Überzeugung, dass die geschlechtergerechte Sprache bzw. die Ansprache von Personen bedeutsam und der Schlüssel und die Voraussetzung für die gesellschaftliche Gleichstellung ist. Zudem ist es für sie ein wichtiger Ausdruck von Respekt und Akzeptanz. Sie zeigt uns wiederum mit ihrem Mindset, dass Mut, Charme und Beharrlichkeit vor keinem Alter haltmachen.
„We need real Design to remember“
Doch was bestimmt unsere Bedürfnisse? Welche Auswirkung hat diese neue Gesellschaftsfluidität auf die Art, wie wir heute und morgen leben wollen? Als Kontrast zu dieser fluiden Entwicklung streben wir nach klaren Strukturen, Sicherheit und nach dem Gefühl der Beständigkeit. Dies ist auch ein Grund, warum Brick (Backstein) und alle Varianten von braunen Farbtönen in Design, Interieur, Fashion und Architektur wieder hoch im Kurs stehen. Sie geben uns genau jetzt das Gefühl der altbekannten Vertrautheit. Diese Materialien und Farben begleiten uns seit Anbeginn der Menschheit und sind tief in unserer DNA verankert. Man könnte sagen: We need real design to remember, who we are – damit wir in dieser neuen Fluidität nicht vergessen, wer wir sind. Dabei spielt auch die archaische Haptik eine zentrale Rolle.
„BRICK“ gestapelt, geschichtet, getürmt und sakral
![Architekten: Hehnpohl-architekten. Haus Am Buddenturm in Münster](https://ladiesdrive.world/wp-content/uploads/2025/02/Hehnpohl-Architektu-bda-1024x640.jpg)
Gegenwärtig werden in der Architektur fleissig Bricks gestapelt, geschichtet, getürmt, versetzt, übereinandergelegt oder imitiert. Es entstehen ganz neue, frühzeitlich wirkende Oberflächen und Wandstrukturen. Sie wirken wie ornamentale Verzierungen und prägen mit beeindruckender Haptik und Optik unser Sehen neu. Ein Beispiel ist das in einer Häuserzeile eingebettete Haus am Buddenturm in Münster der Hehnpohl-Architekten. Die raffiniert gestaffelte Fassade aus gebrannten Handformziegeln ist avantgardistisch und erinnert gleichzeitig an tiefrote mittelalterliche Burgen. Auch die renommierten Architekten Herzog & de Meuron sind dem Charme von Backstein erlegen. Ihr Vitra Schaudepot in Weil am Rhein, die New Tate Modern in London oder der neue Campus des Royal College of Art in London zeugen davon. Ebenso zeigt das atemberaubende Restaurant der Hongkonger Architekturbüros Cheng Chung Design (CCD) in der Stadt Dongfengyun in Mile City China, wie modern, futuristisch und zeitlos Brick sein kann. Die gesamte Innenarchitektur ist ein fantastisches multisensorisches Erlebnis. Mit seinen geschwungenen Konturen und Volumen aus Backsteinen erinnert es an eine Kirche aus der Renaissance. Dabei fliesst das Licht über die geschwungenen Oberflächen der strukturierten Ziegelkaskaden, die wie Wellen oder Wogen den Raum erfüllen.
„BRICK“ avantgardistisch und skulptural
![Interieur: Aesop-shop Brooklyn, New York. Architektin: Frida Escobedo](https://ladiesdrive.world/wp-content/uploads/2025/02/aesop-park-slope-frida-escobedo-interiors-retail-brooklyn-new-york-city-usa_dezeen_2364_sq-1024x1024.jpg)
Aber auch im Interieur und in der Fashion sind die Brick-Optik und ihre Farbpalette nicht zu stoppen. Dabei berührt der Aesop-Shop der mexikanischen Architektin Frida Escobedo in Brooklyn mit seiner einfachen Echtheit. Das Sideboard von Agnes Studio aus Guatemala, das wie ein überdimensionierter, schwebender Backstein aussieht, kann als Liebeserklärung an Brick verstanden werden. Wiederum erinnert das ziegelfarbene Sofa BUDDY 219 von Busetti, Garuti & Redaelli bei Pedrali an einen weichen, gigantischen Backstein, und die fliessende braune Sitzfläche der Sitzskulptur Concrete Melt Chair des New Yorker Design-Studios Bower kann als Sinnbild unserer fluiden Gegenwart gesehen werden. Und die 3-D-Vasen aus Lehm der Design-Agentur Bold aus Paris sehen wie ein archäologischer Fund von Vasen aus gebranntem Ton aus. Sie verdeutlichen unsere neue Liebe zum Erdmaterial, zur geschichteten, zeitlosen neuen Brick-Architektur und Lehmbewegung. All diese Objekte zeigen, dass Brick und Fluidität kein Widerspruch sein müssen. Ebenso ist die Fashion ganz vorn mit dabei und spielt dabei alle Braunvarianten rauf und runter, kombiniert mit Oversize- und Layering-Silhouetten. Ein weiteres Beispiel ist der radikal avantgardistische Sneaker ISPA Zoom Road Warrior von Nike, auch ein klares Statement der Liebe zur geschichteten, gestapelten Optik. Sogar eine Whiskymarke heisst Brick. Seit Jahrtausenden bauen Menschen mit Backstein. Er gehört zum ältesten und demokratischsten Baustoff. Er hat mehrere Generationen überdauert und besticht noch heute mit seinem zeitlosen Charme. Jetzt zeigt sich der Baustoff von seiner modernsten Seite und gibt unserer fluiden Gesellschaftsentwicklung genau das, was sie am meisten braucht: einen ganz neuen Halt.
![NIKE Sneaker. ISPA Zoom Road Warrior](https://ladiesdrive.world/wp-content/uploads/2025/02/Nike-ISPA-Road-Warrior_1-1024x629.jpg)
Eine aufregende Zeit liegt vor uns. Als solche ist die neue Fluidität unserer Gesellschaft sowie die Diversity-Debatte mit ihren Visionen zu bewerten. Die neuen Konzepte und Ideen rund um diese Themen führen zu einer neuen Reihe von Verhalten, Sprache und ästhetischen Visionen. Dieser Megatrend des Fluiden ist wie eine Lawine in Zeitlupen, die unsere Gesellschaft neu strukturieren wird. Dabei werden ganze Branchen nachhaltig verändert und alle Lebensbereiche durchdringt. Es ist eine der stärksten Entwicklungen bezüglich der mittel- und langfristigen Veränderung unserer Gesellschaft. Auch wenn wir zurzeit noch das Gefühl haben, dass die Welt durch die Pandemie starr ist, gar stillsteht, ist aber genau das Gegenteil der Fall.