Wieso sich die Geschlechterdebatte in der Schweiz radikalisiert hat. Eine Studie verdreht allen den Kopf.

Interview: Sandra-Stella Triebl

Fotos: Prof. Katja Rost - Universität Zürich

Ladies Drive Magazine - Katja Rost
Professorin Dr. Katja Rost vom soziologischen Institut der Universität Zürich, eine von zwei Autorinnen der Studie (die zweite war Prof. Dr. Dr. Margrit Osterloh, emeritierte Professorin an der Uni Zürich im Department of Business Administration), erlebt einen echten Shitstorm und erhält gerade so viel Druck, dass sie sich zunächst einmal zu Hause zurückgezogen hat. Seit Veröffentlichung der Studie doziert sie nur noch virtuell, „weil ich mich schützen muss“ sagt sie uns.

„Frauen ohne Lust auf Karriere“ – SRF
Studie: Studentinnen haben ein traditionelles Rollenbild“ – 20 Minuten
„Wie Tamedia den Backlash befeuert: ein Anschauungsbeispiel“ – elleXX
„Studie zu Gleichstellung polarisiert – wo ist der Haken?“ – Aargauer Zeitung
„Artikel über Studentinnen schlägt hohe Wellen – doch die Sache hat einen Haken“ – Watson
„Lieber einen erfolgreichen Mann als selber Karriere machen“ – Tagesanzeiger
„ETH Professorin Dagmar Iber übt Kritik“ – Blick

Dies nur eine Auswahl der Schlagzeilen nach Veröffentlichung einer Studie, die im Original-Titel so harmlos klingt: „Was sind Ursachen der Leaky Pipeline?“

Fakt ist: Professorin Dr. Katja Rost vom soziologischen Institut der Universität Zürich, eine von zwei Autorinnen der Studie (die zweite war Prof. Dr. Dr. Margrit Osterloh, emeritierte Professorin an der Uni Zürich im Department of Business Administration), erlebt einen echten Shitstorm und erhält gerade so viel Druck, dass sie sich zunächst einmal zu Hause zurückgezogen hat. Seit Veröffentlichung der Studie doziert sie nur noch virtuell, „weil ich mich schützen muss“ sagt sie uns.

Wir treffen sie zur Medienlese, in der sie sich von den meisten obenstehenden Headlines distanziert. Denn sie bedienen alle nur ein gewisses Narrativ, was in der Konsequenz zu einer weiteren Verschärfung des Tons zwischen den Geschlechtern, zwischen links und rechts führt. Eine Verschärfung, eine Radikalisierung, die einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Bezug auf die Gleichstellungsdebatte jüngst illiberalen Feminismus getauft haben. Und der gnadenlose Shitstorm gegen die Studienautorinnen, die Diskreditierung ihrer Forschungsarbeit und ihrer Person, ihrer Karriere und der Druck, dem sie ausgesetzt ist, ist schier beispiellos. Nachstehend das Gespräch zwischen Ladies Drive-Chefredakteurin und Herausgeberin Sandra-Stella Triebl, selbst Medienwissenschaftlerin und Nebenfachbiologin sowie Links zur Originalstudie, damit jede und jeder sich selbst ein Bild machen kann.

Uns macht das, was wir in diesem Interview von Katja Rost gehört haben, Sorgen und zwar in vielerlei Hinsicht. Denn es gibt einen Grund für die Radikalisierung von Feminismus. Es gibt einen Grund, weshalb viele einfach keine Geduld mehr haben. Gleichzeitig ist jetzt vor allem eines angesagt: Dialog. Denn „Gleichstellung ist eben nicht Gleichschaltung“. Dies sagte auch die eben pensionierte Leiterin der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich, Helena Trachsel, immer wieder. Missstände muss man ernst nehmen als Gemeinschaft, als Gesellschaft. Doch – wie viel Platz hat heute, 2023, ein individueller Lebensweg denn wirklich…? Und weshalb diese Vehemenz rund um das Thema? Eine Suche nach möglichen Gründen.

Interview: Sandra-Stella Triebl


Ladies Drive: Hätten sie gedacht, dass sie da „sowas“ lostreten? 

Prof Katja Rost: Nein. Eigentlich sollte es mich nicht verwundern. Ich forsche und engagiere mich zu dem Thema schon länger – aber was hier stattgefunden hat ist eine, gemäss meiner Wahrnehmung, gewisse Radikalisierung. Das ist auch einer der Gründe, warum ich die Gleichstellungskommission an der Uni abgeben wollte. Bereits vor dem Shitstorm; aber das wollte niemand übernehmen. Wir haben dann nur mit viel Mühe eine Nachfolge gefunden. Es gibt eine Veränderung in der Diskussion in den letzten Jahren. Gewisse Standpunkte kann ich nicht mehr mittragen. 

Ladies Drive Magazine - Katja Rost

Ich möchte mit ihnen heute auch eine Medienlese machen. Ich fand das schon sehr spannend, wie ein und dieselbe Studie in unterschiedliche Narrative passen kann. Waren sie selbst erschrocken über die Berichterstattung? 

In dieser Drastik, ja. Und wie das auch geframt und unterschiedlich interpretiert wird, hat mich überrascht. Aber im Endeffekt spiegeln die Berichte nur einzelne Bestandteile der tatsächlichen Resultate. Einen ähnlichen Shitstorm hat ein Kollege von mir bekommen, Martin Schröder, als er das Buch „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ veröffentlichte. Die über sechs Länder und 800’000 Befragte abgedeckte Studie zeigte unter anderem, dass Männer tendenziell mit jeder Arbeitsstunde, die sie mehr leisten, zufriedener werden, während Frauen auch bei Teilzeitarbeit zufrieden sind. Seine Interpretation der Studie lautete: „Lasst doch die Frauen so leben, wie sie möchten. Die haben sich längst das Leben ausgewählt, mit dem sie zufrieden sind.“ In seinem Buch unterscheidet er zwischen liberalem und illiberalen Feminismus und sagt: „Illiberaler Feminismus ist eben ein Feminismus, der den Frauen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Und liberaler Feminismus ist ein Feminismus, der auch akzeptiert, dass Frauen und Männer andere Entscheidungen treffen und andere Wünsche und Ziele haben“. Er kassierte dafür ebenfalls sehr viel Kritik; gerade von Professorinnen. Er sagt indes nur: Männer und Frauen haben unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Er bezeichnet auch einen Teil (nicht alle!) der Genderstudies als illiberal, z.B. indem er argumentiert, das sind Frauen, die mehrheitlich Frauen-Studiengänge studiert haben – Geistes- und Sozialwissenschaften – und die nun versuchen anderen Frauen einzureden MINT-Fächer studieren zu müssen, obwohl sie das selber nicht getan haben. 

Woher kommt dieser illiberale Feminismus? Auch: woher kommt diese Härte, diese Vehemenz in der aktuellen Diskussion um ihre Studie? Das hat ja alles seine Gründe. 

Das ist eine Radikalisierung, die wir selber vorangetrieben haben. Das ist meine Interpretation und Leseart. Ich beobachte hier auch nur eine Minderheit, die radikal argumentieren. Im Sinne: weil ich „Betroffene“ – also Frau – bin, bin ich Expertin für Genderfragen, egal ob sie Elektroingenieurwesen, Physik oder sonst etwas ganz anderes studiert hat. Viele halten mittlerweile Vorträge zum Thema Gleichstellung, obwohl sie sich mit der Literatur gar nicht tiefgründig auseinandergesetzt haben; insbesondere nicht mit der neueren Literatur. Gesellschaft wandelt sich. So auch die Erkenntnisse, wie es um Gleichstellung bestellt ist. Ich muss mir jetzt, zum Beispiel, ganz viel Kritik anhören von Frauen, die meiner Meinung nach noch nie Literatur zu dem Thema gelesen haben. In dieser Kritik werden Studien zitiert, die ich um die Ohren gehauen bekomme, die sind 20 Jahre alt. Wir wissen, vor 20 Jahren war es anders als jetzt. Das wird nicht zur Kenntnis genommen. Ich werde als „Vollidiotin“ hingestellt, die sozusagen ja gar nicht weiss, worüber sie redet. Wir haben uns intensiv  mit der Fragestellung auseinandergesetzt, warum eben bestimmte Frauenförderprogramme, die man macht, nichts bringen oder warum diese teilweise sogar das Gegenteil bewirken können. Das wird alles nicht zur Kenntnis genommen. Das hat man nicht gelesen, aber man ist selbst die grösste Expertin in dem Bereich. 

Aber woher kommt die Vehemenz? Und: Sollen wir keine Frauenförderprogramme mehr betreiben?

Selbstverständlich benötigen wir weiterhin Frauenförderprogramme. Aber: diese dürfen nicht auf dem alten Stand der Forschung stehen bleiben. Gesellschaften verändern sich. So besteht auf Ausbildungs- und Arbeitsmärkten heute in vielen Bereichen bereits eine Chancengleichheit von Männern und Frauen, die von der Forschung sauber belegt ist. Auch beobachten wir in letzter Zeit in einigen Arbeitsmärkten eine „Reverse Discrimination“: Männer erleben einen Nachteil und die Frauen Vorteile. Auch das sind Studienergebnisse, die man zur Kenntnis nehmen kann. Trotzdem gibt es für Frauen weiterhin Barrieren – und zwar in den Köpfen und in Strukturen der Institutionen. Normen sind immer endogen. Wenn wir über Normen in Köpfen sprechen, müssen wir uns auch die Strukturen anschauen, die diese Normen hervorbringen. Wir müssen das also immer von zwei Seiten her betrachten. Aufgrund der aktuellen Studienlage kann man behaupten, dass Frauen nicht in dieser Art und Weise diskriminiert werden, wie das in vielen Programmen dargestellt wird. Wir sehen in der Forschung mittlerweile andere Ursachen und brauchen deswegen auch andere Massnahmen. 

Aber nochmal kurz zur Radikalisierung. Geht manchen Frauen die Geduld aus? Oder geht es auch darum, gehört zu werden, so wie die Klimakleber, um jetzt mal diesen Vergleich zu ziehen? 

Ja, das ist das, was wir häufig hören von vielen Frauen – auch an der Uni. Die andere Sache ist, dass die Leute sich viel zu wenig selbst reflektieren, dass sie zum Beispiel selber solche Normen noch in sich drin haben. Ich glaube daher, dass viele davon ausgehen, dass sie sehr emanzipiert sind und völlig frei sind von Rollenklischees –  was so nicht zutrifft. Hier fehlt eine Sensibilisierung. Wir alle haben gewisse Vorurteile, Klischees, kaum jemand ist komplett frei davon. Aber: in dieser vehementen Diskussion, so wie wir sie gerade auch wieder erleben, werden diese Normen und Geschlechterrollen quasi negiert. 

Wie viele Medien haben sie denn für ein Interview angefragt? 

Sehr viele! Aus dem ganzen politischen Spektrum. Natürlich kriegt man ganz klar mit, woher der Wind weht. Also ich sage mal, die konservativen Medien sind mir gegenüber sehr wohlwollend gesinnt. Mit eher links ausgerichteten Medien hatte ich zu kämpfen.

Wieso?

Naja, weil ich quasi eine Nestbeschmutzerin bin. Ich mache in ihren Augen die ganze Emanzipation der Frau kaputt. Diese Radikalisierung hat auch an gewissen Rändern stattgefunden, das merkt man unter anderen auch an den Universitäten. Universitäten sind eher links geprägt. Diese radikalen Ränder sind gut organisiert, treten lautstark auf und arbeiten mit extrem starken Sanktionen gegenüber Leuten, die nicht ihrer Meinung sind. Doch so traut sich niemand mehr eine Gegenposition einzunehmen. Was wir hier erleben ist das, was sich in den USA an den Unis bereits stark durchgesetzt hat. Diese politische Korrektheit. Gewisse Meinungen werden mundtot gemacht. Und das erreicht man auch sehr gut. 

Wenn man so einen Shitstorm erlebt, sie sie gerade – das ist nicht lustig. Da ist nicht jede und jeder dafür gemacht, das auszuhalten. 

Ich weiss. Auch einige meiner Mitarbeitenden sind gerade etwas verängstigt. Sie finden es schockierend, was da gerade mit mir passiert.

Was passiert gerade mit ihnen – in ihren Worten? 

Ich stecke mitten im Shitstorm und er wird sozusagen nicht kleiner, sondern immer grösser. Das war, das ist extrem. Auch diese Angst, dass ich gekündigt werden könnte. Ich bin jetzt seit zwei Wochen Zuhause und mache nur noch online meine Vorlesungen, weil ich mich gar nicht mehr an die Uni traue. 

Echt jetzt?

(Nickend) Ich möchte mich da auch erstmal schützen als Person und hab das dann auch offen kommuniziert meinen Studierenden gegenüber. Dass ich mich fürchte davor, mit Eiern und Tomaten beworfen zu werden und dass ich das deswegen jetzt mal online doziere. 

Ist die Angst berechtigt? 

Ja. Einige Kolleginnen haben sich extrem aufgeregt. Gott sei Dank steht die Uni-Leitung hinter mir, weil das war ja auch ihre Studie. Das kommt noch hinzu. Ich hab das freiwillig gemacht. Auch Margrit Osterloh hat extrem viel unentgeltliche Zeit rein gesteckt in diese Sache – diese Studie war also ein „freiwilliges Engagement“ für die Uni-Leitung. Insbesondere an der ETH haben sich die Frauen extrem aufgeregt. Da hab ich noch einen ungelesenen Brief vor mir liegen. Ich muss mir den noch durchlesen und sachlich darauf reagieren. 

Wenn wir uns die Berichterstattung anschauen, war das spannend zu beobachten, wie die verschiedenen Medien darüber berichtet haben. Teilweise konnte man Analysen lesen wie etwa dies: die Frauen haben keinen Bock auf Karriere, sie wollen lieber einen Mann, der eine bessere Ausbildung hat als sie und sie wollen ein Kind haben und dann daheim bleiben. Fanden sie das korrekt wiedergegeben zu Beginn? 

Nein, viele Headlines waren absolut reisserisch – und die haben wir auch so nicht freigegeben. Wären die ersten Schlagzeilen weniger reisserisch gewesen, wäre das Thema wohlmöglich nicht so hochgekocht. Aber man muss auch sagen, dass viele Headlines nicht komplett falsch waren. Allerdings muss man solche Befunde auch im Gesamtkontext sehen. Und das machen Headlines nie. Wir hatten in „Forschung und Lehre“ schon eine Kurzversion der Studie rausgegeben und man hatte mir von deren Seiten damals die Rückmeldung gegeben, dass die Resultate auf sehr grosses Interesse gestossen sind. Und die deutschen Kolleginnen und Kollegen haben unsere Studie für Deutschland nachgerechnet – und sind übrigens auf denselben Befund gekommen. Wir haben beispielsweise auch rausgefunden, dass es nicht stimmt, dass Frauen in einer Minderheit Schwierigkeiten haben, sich durchzusetzen. Wir haben den gegenteiligen Effekt gemessen: dass Frauen dort eine Herausforderung haben, wo sie in der Mehrheit sind. 

Ladies Drive Magazine - Katja Rost

Dann gab es auch Blogs und Berichte, die angefangen haben, das Studiendesign zu kritisieren. Die Fragen seien tendenziös gewesen.

Einer der bekannteren Nachrichtenportale der Schweiz hatte die ganze Studie vorliegen gehabt. Sie haben es nur nicht gelesen. Ich hatte ihnen alles zugeschickt – aber sie haben wohl nicht mal richtig reingeschaut – denen ging es nur darum, eine grosse Story daraus zu machen. 

Einige Kritiker haben Screenshots von gewissen Fragen publiziert…

Die hatten vor allem Studierende interviewt, die an der Befragung teilgenommen haben. Fakt ist, dass wir über 100 Fragen ausgewertet haben – die aber nur zwei davon publik gemacht hatten. Und zwar genau die, die den Eindruck erwecken, wir hätten tendenziös gefragt. Wir haben übrigens ein Design verwendet, welches in der Organisationswissenschaften absolut etabliert ist.

Okay, nur damit ich das richtig verstehe – es wurde zum Beispiel gefragt: für wie gesellschaftlich erwünscht halten sie folgende Eigenschaften für Frauen? Und dann waren Adjektive wie: weich, herzlich, feinfühlig, sinnlich, empfindlich und einiges mehr als Antwort möglich. Weiters wurde gefragt: für wie gesellschaftlich relevant halten sie folgende Eigenschaften für Männer: Hat Führungseigenschaften, respekteinflössend, mächtig, dominant, erfolgsorientiert. Und nun wird argumentiert, dass man die Eigenschaften der Männer auch Frauen hätte zuordnen können müssen und vice versa.

Ersten haben wir viele weitere Items auswertet und unsere Befunde sind robust. Zweitens kann man Stereotype nun einmal nur abfragen, wenn man auf Stereotype referenziert. Die Befragten hatten die Möglichkeit zu sagen, dass sie dem nicht zustimmen. 

Das heisst, sie haben überhaupt nicht tendenziös gefragt, sondern haben einfach versucht Teilbereiche abzufragen? 

Genau – wir sind ganz ergebnisoffen gestartet. Wir hatten drei Hypothesen, die wir testen wollten. Frauen werden diskriminiert, weil sie in der Minderheit sind. Die mussten wir klar verwerfen. Die Erkenntnis dazu kam unter anderem auch aus Strukturdaten. Das war übrigens der Hauptaufwand unserer Arbeit. Das wird gar nicht zur Kenntnis genommen. Also wir sassen wirklich anderthalb Jahre da und haben diese Daten, diese Pipelines zu den einzelnen Studienfächern an der ETH und die UZH über die letzten 15 Jahre zusammengesammelt. Das ist nicht gerade trivial. Wir machen eine feine Differenzierung. Aber natürlich gibt es an der philosophischen Fakultät eben Fächer wie Soziologie, was ein typisches Frauenfach ist. 

Wie hoch ist der Frauenanteil? 

Über 80% zum Studienanfang. Aber es gibt halt auch Fächer wie Geschichtswissenschaften, wo man eher eine Gleichverteilung des Geschlechts beobachtet. Oder gehen sie in die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät rein. Dort haben wir BWL, das ist ein Fach, in welchem wir einen recht hohen Frauenanteil haben. Finance hingegen ist ein Fach, welches eben sehr viel weniger Frauen studieren, oder Volkswirtschaftslehre. Wir haben uns also alle 180 Fachrichtungen, die an der ETH und an der UZH studiert werden können, angeschaut, sind in jede Fachrichtung rein und haben uns den Frauenanteil am Anfang, am Ende, in der Postdoc-Phase, in der Assistenzprofessur-Phase und zwar mit und ohne „tenure track“ und dann in der Professur-Phase angeschaut. Und das wird gar nicht zur Kenntnis genommen. Wir kamen zum Befund, die Frauen können sich recht gut durchsetzen in Disziplinen, wo sie in der Minorität sind. Dort finden wir fast gar keine Leaky Pipeline vor. Dort gehen die Frauen kaum auf dem Weg nach „oben“ verloren. Auch das ist ein Resultat, was heute wenig reflektiert wird. Ganz abgesehen davon: Wenn der anfängliche Frauenanteil im Maschinenbau beispielsweise unter 10% liegt, kann man nicht 50% Frauen als Professorinnen verlangen. Für unseren Befunde, dass Frauen in Frauenfächern auf dem Weg nach „oben“ verloren gehen, gibt es zwei Erklärungen. Diese haben wir versucht mit dem Fragebogen zu testen. Deswegen sind auch so viele Items drin. Das eine ist die Diskriminierung von Frauen in Frauenfächern, also dort, wo sie eben zu einem hohen Anteil vorhanden sind. Ein Beispiel: unter 100 Kindergärtnerinnen macht oft der eine Kindergärtner Karriere oder aber der eine Pfleger, oder der eine Sozialpädagoge. Und hierzu gibt es schon bereits Forschungsevidenz und auch Hypothesen, die besagen, dass Männer aufgrund ihres höheren gesellschaftlichen Status, der ihnen nach wie vor zugesprochen wird, sich in solchen Frauenumgebungen besser durchsetzen können – bei gleicher Leistung. Die andere Hypothese ist, dass wir eine Selbstselektionsthese testen. Diese besagt, dass Frauen und Männer unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse haben. Deswegen selektionieren sie sich in unterschiedliche Fachrichtungen. Frauen, die Frauenfächer studieren, sind vielleicht eher die, die Zeit mit den Kindern verbringen möchte, die eben sagen, dass ihr Karriere per se nicht ganz so wichtig ist, die andere Werte haben. 

Wie spannend fanden sie es zu sehen, wie unterschiedlich die Studie interpretiert wurde in den Medien? 

Am spannendsten fand ich zunächst mal, dass uns die Kompetenz als Wissenschaftlerinnen abgesprochen wurde. Obwohl dies extrem rufschädigend sein kann, konnte ich das wegstecken. Der zweite Vorwurf, der ja jetzt kommt, ist, wir hätten ein schlechtes Studiendesign gehabt, es könne keine Kausalität getestet werden und überhaupt diese Empirie, die wir haben, die kann in die Tonne gekloppt werden.

Was hat sie am meisten geärgert? 

Das unsere Studie daran verantwortlich sein soll, dass es jetzt den Backlash gibt. Der war vorher gar nicht da und wir haben jetzt quasi durch unsere Studie den Rückschritt in der Schweiz bewirkt. 

Und wie finden sie das Argument von gewissen Medien, die sagen: „Hey, die konservativen Männer haben diese Studie gekapert, um uns Frauen zu sagen, dass wir alle keine Karriere wollen und keine Ambitionen haben?“ 

Auch das ist absolut übertrieben. 

Sprechen wir doch mal über das Wort „Karriere“. Kann es sein, dass es für die jüngere Generation negativ konnotiert ist und sie Karriere deshalb von sich weisen? Ich beobachte, auch nach meinen mittlerweile 15 Jahren Mentoring an den Universitäten, dass junge Frauen und auch junge Männer einen Impact kreieren wollen. Aber nicht um jeden Preis. Und sie nennen das dann auch nicht: Karriere. 

Ja, das stimmt. Als die Resultate da waren, war ich echt auch überrascht, muss ich sagen. Ich bin auch viel als Mentorin unterwegs und habe ebenfalls gespiegelt bekommen, dass man sich von diesem Modell des Malochens abwendet. Aber man muss hier zwei Dinge berücksichtigen. Das eine sind die existierenden Strukturen in Organisationen, zumindest an der Uni. Das zweite ist, sie können keinen Impact kreieren, wenn sie sich nicht 150% reinknien, zumindest in den momentanen Strukturen. 

Kann es sein, dass die Generationen da teilweise aneinander vorbeireden, wenn es um Karriere geht? 

Das finde ich eine interessante Leseart von ihnen. Das ist eine sehr willkommene Bereicherung der Kategorisierung. 

Was wäre denn aus Ihrer Sicht die perfekte Headline in den Medien gewesen, die ihre Studie korrekt wiedergegeben hätte? 

Frauen und Männer haben unterschiedliche Ziele und Wünsche. 

Gleichstellung ist halt nicht Gleichschaltung?

Genau. Die zieht natürlich nicht so wie das, was die Medien teilweise daraus gemacht haben.  Und auch nicht wie unser Papier. Unser Papier heisst: „Was sind die Ursachen der Leaky Pipline?“. Kein sehr spannender Titel!

Wie könnte man jetzt weiter machen oder wo sollte man jetzt weitermachen? 

Ich finde das im Nachhinein gar nicht so schlecht, dass das jetzt so hohe Wellen geschlagen hat, weil was hier wirklich passiert ist – da ist ja irgendwas explodiert. Jetzt liegen mal die Karten auf dem Tisch und wir sollten nun in eine lösungsorientierte Debatte entsteigen.

Was wäre eine lösungsorientierte Debatte für sie? Über was sollten wir sprechen?  

Über Gleichstellung und nicht Gleichmacherei. 

Was es bedeutet und auch anerkennen, dass wir unterschiedlich sind? Das nicht alle Frauen Karriere machen wollen, dass nicht alle Frauen Mütter sein wollen, sondern dass es eben sowas dazwischen gibt und alles ist okay? 

Zum Beispiel. Und wir sollten über illiberalen Feminismus sprechen. Es gibt Frauen, die sich einfach absolut nicht mehr wertgeschätzt fühlen in der heutigen Gesellschaft.

Was man auch versteht. 

Ja, finde ich auch nicht in Ordnung. 

Alle Menschen, die nicht gehört und gesehen werden und wertgeschätzt werden, für das, was sie tagtäglich tun – das findet niemand wirklich toll auf Dauer. 

Aber es kann nicht sein, dass Frauen andere Frauen direkt oder indirekt fertig machen. Man darf nicht behaupten, dass jede so leben darf, wie sie will und sich dann einer Debatte darüber verwehren. Es braucht eine konstruktive Diskussion darüber, was wir – aufgrund der neuen, aktuellen Studienlage – tun sollten. Die aktuellen Frauenförderprogramme erreichen häufig die Normen, die in unseren Köpfen nach wie vor vorherrschen, nicht oder nur unzureichend. 

„Unconscious Bias“, unbewusste Denkmuster oder generell Vorurteile lassen sich eben nur schwer abbauen…

Vielleicht braucht es an der Uni ein unverbindliches Grundstudium, eine Vorlesung für alle Fachrichtungen, die auf solche Muster hinweist und die alle darauf sensibilisiert und stückweit auch aufklärt. Weil vielen ist es eben nicht bewusst. Man hat immer das Gefühl: naja, das wissen wir doch jetzt alle! Aber das wissen eben nicht alle, eben auch zum Beispiel das, was sie gerade ansprechen. Diese Identitätskosten von Frauen, für die es schwer ist, sich gegen eine gesellschaftliche Norm aufzulehnen. Was bedeuten das alles für eine Paarbeziehung? Ich glaube, je mehr man aufklärt, je mehr die Leute das wirklich bewusst auch reflektieren können, umso eher wird man auch einen normativen Wandel mit der Zeit beobachten können.


Link zur Originalstudie und weiteren Informationen:
https://www.suz.uzh.ch/de/institut/professuren/rost/Leaky-Pipline.html

Downloadlink zur Studie:
Auszug der Gender Diversity anhand der Befragung von Verwaltungsrats-Mitgliedern in börsenkotierten und grossen nicht börsenkotierten Schweizer Unternehmen

Veröffentlicht am Mai 17, 2023

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