Das Ende der Leistungsgesellschaft – Sheerah Yuhee Kim

Idee & Realisation: Sandra-Stella Triebl
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Location: B2 Hotel Zürich

Ladies Drive Magazine - Sheerah Yuhee Kim
Sheerah Yuhee Kim portraitiert und interviewt zum Thema "Das Ende der Leistungsgesellschaft" in der Ausgabe No 59 (Herbst 2022).

Sheerah Yuhee Kim

Ladies Drive Magazine - Sheerah Yuhee Kim

Senior Strategy Analyst
Swiss Re & Communication Officer BPW Europe
www.bpw-europe.org
www.bpw.ch

Keine Alternative zu Adam Smiths klassischer Ökonomie?

Der Begriff Leistungsgesellschaft hat mich durch die Erziehung meiner koreanischen, sehr evangelischen Eltern geprägt. Eine überdurchschnittlich gute Leistung in der Schule war eine Grundvoraussetzung, und bei Nicht-Einhalten von Regeln wurde je nach elterlichem Ermessen bestraft – auch mit physischen Folgen. Schnell lernte ich, dass der direkte Widerstand und eine Revolution zwecklos sind. Der einfachste Kompromiss war, dass ich genügend gute Leistung erbrachte und somit meine Freizeit und Freiheit „erkaufte“. Damals erschien mir dieses Verhältnis als „Win-win-Situation“, denn ich verspürte Dankbarkeit und das Glück, dass ich im direkten Vergleich mit der Leistungsgesellschaft in Korea „glimpflich“ davongekommen bin.

Glücklicherweise hatte ich in der Schule einen sozialkritischen und nicht ganz konformen Lehrer, der uns verschiedene Ansätze von Soziologie, Ethik und Philosophie vermittelte. Da kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit Marx’ und Engels’ Theorien und der calvinistischen Arbeitsethik und fand Argumente für das Verhalten meiner Eltern und weshalb ich gewisse Glaubensansätze verinnerlichte. Ich schöpfe heute noch aus dem Vollen, wenn ich zu sinnstiftender und nachhaltiger Wertschöpfung als Arbeitskraft beitragen kann. Der Unterschied von heute zu früher ist, dass ich reflektierter mit diesem Thema umgehe, bewusster auf Grenzen meiner Resilienz und Ressourcen achte und sorgfältiger meine Tätigkeiten aufgrund meiner persönlichen Werte ausübe.

Heute verfügen wir über die besten Voraussetzungen, uns der eigenen Selbstverwirklichung und -optimierung zu widmen. Wir leben in einer Gesellschaft mit Wohlstand, Zugang zu zeitnahen Informationen und Offenheit zu verschiedensten Themen (z. B. LGBTQ+), die die Inklusion und Diversität fördern.

Dennoch beobachte ich die Angst vor sozialer Desintegration, Statusverlust und Verurteilung, wenn eine alternative Art des Wirtschaftens angestrebt wird.

Sollten wir unsere Aufmerksamkeit nicht genau auf diese wichtigen Veränderungsprozesse lenken? Was sind die strukturellen und kulturellen Parameter, nach denen wir uns richten, und welche Auswirkungen hat das auf vorherrschende Identitätsmuster?

Da denke ich stark an das Buch von Hartmut Rosa, „Beschleunigung und Entfremdung“, und die rein logische Folge einer „Freisetzung von Zeit durch technische Beschleunigung“. Allerdings findet dies in der Spätmoderne nicht statt, da wir unserer Selbst entfremdet sind. Die Freisetzung von Zeit wird weder der Entschleunigung zugewandt, noch werden die natürlichen Geschwindigkeitsgrenzen beachtet. Der Mensch klassifiziert sich noch immer als Produktionseinheit. Mehr Output pro Zeiteinheit bedeutet mehr Beitrag zur Wertschöpfung, und technologischer Fortschritt ist gleichgestellt mit einer besseren Optimierung der Produktivität. Zeitersparnis ist der entscheidende Faktor für Gewinnmaximierung und Wettbewerbsfähigkeit, und die schnelllebige Kapitalgesellschaft ist ein grosser Antreiber und Bewahrer dieser Mentalität. Aber was ist tatsächlich der „Mehrwert“, der bei diesem Vorgehen geschaffen wird, und wie wird dieser optimal eingesetzt? Wir als Konsumenten und Arbeitskraft sollten stets hinterfragen, ob „Best in Class“ auch die nachhaltigste Erwirtschaftung oder Lösung eines Problems ist, und entsprechend unsere Entscheidungen lenken.

Das Tempo unseres Lebens wird durch den Glauben an das ewige Wachstum und Gewinnmaximierung bestimmt.

Wir haben noch keine Alternative zur klassischen Ökonomie von Adam Smith aus dem 18. Jahrhundert gefunden, und wir als Akteure haben zunehmend das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft. Möglicherweise war die Pandemie – so dysfunktional und einschneidend, wie sie auch war – eine Form der temporären Entschleunigung, und viele haben die Zeit in Isolation genutzt, Werte zu reflektieren, und teilweise sogar einen Ausstieg aus vorherrschenden Strukturen gesucht. Fand dabei eine Emanzipation statt, die strukturellen und institutionellen Hindernisse abzuschaffen? Es gibt sicherlich einen Shift der Arbeitsethik, und die Gesellschaft ist reifer für eine systemische Transformation, jedoch denke ich nicht, dass wir am Ende der Leistungsgesellschaft angelangt sind. Fest verankerte und veraltete Leadership-Ansätze der heutigen Führungskräfte erleben nach Abschaffung der Pandemieregeln einen zweiten Frühling. Und wenn wir unsere Perspektive geografisch nach Asien ausweiten, sehen wir noch eine längere und prägnantere Phase der Erhaltung der Leistungsgesellschaft. Dies konnte ich während meiner Arbeitstätigkeit in Singapur, Hongkong und China genauer beobachten. Doch auch da können wir als Führungskräfte die Aufmerksamkeit auf Messgrössen lenken, die nicht nur das „Was“, sondern das „Wie“ wir wirtschaften, fördern. Wenn wir davon überzeugt sind, dass die Nachfrage das Angebot lenkt, dann ist nicht die „unsichtbare Hand“ der Marktwirtschaft, sondern sind wir alle als Akteure am Lenkrad.
Es fängt schon bei der Erziehung und Bildung an, wie unsere Ideale geformt werden, und wir verfügen über die intellektuelle Kapazität, unsere Werte im Erwachsenenleben zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Ich glaube nicht, dass sich die Menschen ganzheitlich vom Wohlstand abwenden werden. Deshalb erachte ich eine pragmatische, fokussierte und systematische Herangehensweise als sinnvoll. Einige Bereiche haben bereits an Momentum gewonnen, und diese sollten wir ausgeprägter fördern. Ich versuche, verschiedene Ansätze bei BPW Business & Professional Women als Communication Officer bei BPW Europe und Vorstandsmitglied bei BPW Switzerland einzubringen. Unser Ziel ist es, Frauen auf dem Weg zur finanziellen Unabhängigkeit und Weiterentwicklung zu unterstützen. Ich hoffe, für die nächste Generation in der Arbeitswelt werden die Begriffe „Equity“ und „Holacracy“ eine Selbstverständlichkeit sein, und wir als heutige Führungskraft tragen die Verantwortung, ihnen den Weg zu bahnen.


Weitere Interviews in der Serie „Das Ende der Leistungsgesellschaft“:

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Veröffentlicht am März 04, 2023

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