Über Obsoleszenz, Live-Hacks und den richtigen Move

Text: Patti Basler
Illustration: Etschgi

Ladies Drive No 68. Patti Basler. Über Obsoleszenz, Live-Hacks und den richtigen Move. Illustration: Etschgi
Ladies Drive Magazine
„Gehen wir noch zum Tut Jussef?“, frage ich meine Mutter beim Wocheneinkauf. „Tut Jussef“ klingt nach Krämerladen, Schuhmacherei, Schlüsselservice im Besitze eines algerischen Immigranten. Einer, der tout le service bietet, alles selber flickt mit Schnur, Nadel und Faden.

Ich meinte allerdings den Baumarkt eines Grossverteilers, der damals Do-it-yourself hiess. Das klingt nachhaltiger, als es ist, Grossverteiler wollen viel verkaufen, letztlich verkaufen sie sogar ihren Baumarkt an die Konkurrenz. Gewollte Obsoleszenz, die Sollbruchstelle des Materials, sorgt für Sollbruchstellen in der Gesellschaft: vom Kapi­talismus befeuerte Klassenunterschiede und Klima­katastrophen.

Hier setzt das Maker Movement an, mit Nachhaltigkeit, Teilhabe für alle, Selbstwirksamkeit, Schonung der Ressourcen, indem möglichst recycliert, repariert, kreislaufgewirtschaftet wird. Klingt modern, trendy und verheissungsvoll, erinnert mich aber an meine Kindheit auf dem Bauernhof, it rings a cowbell.

Meine Grossmutter war Maker der ersten Stunde! Bei ihren seltenen Restaurantbesuchen benutzte sie von den weichen Servietten höchstens die Hälfte. Die andere veredelte sie mit ihrem Maker Tool (einer Schere) zu Toilettenpapier. Aus bunten Illustrierten trennte sie wöchentlich die Comic-Seiten heraus. Ende Jahr nähte sie diese zu einem Buch zusammen mit dickem rotem Wollfaden aus dem aufgetrennten kratzigen Pullover. Am Rücken war die Wolle unangenehm gewesen, am Buchrücken störte sie niemanden. Trial and error. So standen bei uns dicke Comics im Regal, Prototypen mit roten Zick-Zack-Stichen, wie keine anderen Kinder sie hatten. Auch anderes wurde recycliert. Aus Verpackungen wurde Spielzeug, aus aufgetrennten Kleidern wurden neue hergestellt. Das Know-how wurde geteilt, damit wir selber ausprobieren, verfeinern, erweitern konnten.

Grossmutter war das YouTube-Tutorial meiner Kindheit.

Meine Mutter war immer on the move. Sie verfügte als Schneiderin und Bäuerin über Tools und Learnings für Nachhaltigkeit. Im Kampf gegen Foodwaste knetete sie Pasta-, Brot-, Gemüsereste mit Fleisch zusammen. So zeigte sie uns, wie in einem 3-D-Verfahren gestreckte, halb vegetarische Hamburger geformt werden konnten. Ein Live-Hack. Hack darf man hier sogar wörtlich verstehen.

Mein Vater war ein kreativer Denker, mental fast noch stärker als körperlich. Do it yourself war auf dem Hof eine unfreiwillige Devise, eine Challenge, die mein Vater spielerisch annahm. Materialien zum Flicken und Basteln gab es genügend, Strohschnüre beispielsweise. Wobei man wissen muss, Strohschnüre sind nicht aus Stroh, sondern aus Polymeren, meerblau, reiss- und wetterfest. Heu und Stroh sind bekanntermassen getrocknete Halme, Futter oder Einstreu, Wintersalat oder Matratze unserer Tiere. Getreide- und Grashalme auf dem Feld, dieser natürliche Rohstoff wird unter hohem Druck in stapelbare zylinder- oder quaderförmige Ballen gepresst.

Die Strohballenpresse ist der 3-D-Drucker unter den Landmaschinen.

Dicht und formend werden die unzerstörbaren Strohschnüre um die Strohballen gewickelt. Die Strohschnüre sind das Schnür-Mieder für den getrockneten Pflanzenkörper, die Body-Shape-Ware für Strohpuppen, das Bondage für Strohmänner.

Nach dem Einstreuen oder Verfüttern landen die Strohschnüre normalerweise im Müll und schliesslich als Mikroplastik im Meer. Meeres-Pollution durch Polymere. Doch für meinen Vater waren sie eine nie versiegende Quelle, eine Open Source für seine Kreativität.

Was lose war, wurde mit Strohschnüren geflickt. Fehlte eine Sprosse an der Leiter, wurde sie ersetzt durch eine blaue Strohschnurkordel; eine Karriereleiter bei der Suva wäre dadurch allerdings zerstört worden. War die Deichsel zur Kopplung von Traktor und Ballenpresse beschädigt, entstand ein flexibles blaues Ersatzgelenk, ein Joint Venture am John-Deere-Traktor. Geräte wurden meist von mehreren Bauernhöfen genutzt, Support, Give, Participate und Share (Share gefiel Schafzüchtern im doppelten Sinne). Im Dorf wusste man bald, welche Maschinen auf unserem Hof mitbenutzt wurden, sie waren sichtbar blau markiert. Modifizierte Prototypen einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Doch geschnürte Bruchstellen, blaue Verbindungen zwischen Geräten und Rädern, hiess es, das sei keine saubere Reparatur, das sei eher die Achse des Unseriösen.

Man nannte uns bald nur noch die „Strohschnur-Baslers“. Ich aber nenne uns „Maker Movement“. Grossmutter war Maker, Mutter war Move, und mein Vater war Ment, der Geist. Kreativ und polymerblau, als entstammte er einer schnurumwickelten Flasche, gekauft im Krämerladen von Tut Jussef.


Creator
Patti Basler
Kolumnistin

Veröffentlicht am Januar 13, 2025
Weitere Artikel aus der Ladies Drive No 68 (Winter 2024/2025) Ausgabe
From Maker Movement To Human Centricity

From Maker Movement To Human Centricity

Von der gestressten Macherin zur energetischen Gestalterin
Der Flaschen-Move

Der Flaschen-Move

Warum Leader nicht ins Tun kommen
Die Kraft der Kollaboration und Innovation

Die Kraft der Kollaboration und Innovation

Wie Verwaltungsrätinnen den Wandel zu Human Centricity vorantreiben können
Ladies Drive No. 68: Watches & Jewelry

Ladies Drive No. 68: Watches & Jewelry

Must-Haves Winter 2024/25
Über Macher und neue Kompetenzen

Über Macher und neue Kompetenzen

Und weshalb wir neue KPIs dringend brauchen
„Hier gibt es keine Regeln. Wir versuchen schliesslich, etwas zu erreichen“

„Hier gibt es keine Regeln. Wir versuchen schliesslich, etwas zu erreichen“

Zitat von Thomas Alva Edison
Konkurrenz ist der Schatten, der uns antreibt, im Licht zu glänzen

Konkurrenz ist der Schatten, der uns antreibt, im Licht zu glänzen

Was wäre Coca-Cola ohne die Konkurrenz mit Pepsi? Wären ohne Pepsi-Challenge und Cola Wars diese Unternehmen so erfolgreich?
„The way to get started is to quit talking and begin doing“ – Walt Disney

„The way to get started is to quit talking and begin doing“ – Walt Disney

Jüngst hat unsere Konsumstimmung, in der wir fast alles fertig kaufen, Kaputtes wegwerfen und wieder neu kaufen, vielerorts Rückschläge erlitten.
SheBossCar

SheBossCar

Mercedes-Benz E 300 de 4MATIC T-Modell
Women of Impact: Tanja Klein

Women of Impact: Tanja Klein

Aus Überzeugung gegen Fast Fashion
Ladies Drive No. 68: Beauty Must-Haves

Ladies Drive No. 68: Beauty Must-Haves

Eure Beauty-Must-Haves für den Winter 2024/2025
Sylvia Epaillard: digitale Macherin

Sylvia Epaillard: digitale Macherin

Wie die Pionierin im digitalen Business von der Buchdruckerei zu Google und in die Welt der digitalen Transformation fand, die Kunst entdeckte, traditionelles Business in die digitale Welt zu übersetzen, und warum es schlau sein kann, den Feind zum Freund zu machen.
Schau dir alle anderen Artikel aus der Ladies Drive No 68 (Winter 2024/2025) Ausgabe an

Ladies Drive Magazin

4x pro Jahr.

Werde Teil der Business Sisterhood und des Ladies Drive Soultribes.
Bestelle das Magazin in unserem Shop.

Ladies Drive No 68 Cover. The Maker Movement. So bewegen wir die Welt

Folgt uns in den sozialen Medien, um in Kontakt zu bleiben und erfährt mehr über unsere Business Sisterhood!

#BusinessSisterhood     #ladiesdrive

Möchtet Ihr mehr News über die Sisterhood & alle Events?

Werde Kindness Economist und Teil unserer Business Sisterhood!

  • •⁠ ⁠⁠Zugang zu exklusiven Angeboten und Verlosungen, die ausschliesslich für die Newsletter-Community gelten.
  • •⁠ ⁠⁠Erfahre als Erste von unseren Events und profitiere von Spezialkonditionen.
  • •⁠ ⁠⁠Lerne wie wir gemeinsam die Welt bewegen und verändern können.

Jetzt den Ladies Drive-Newsletter abonnieren.

Sie haben den Ladies Drive Newsletter erfolgreich abonniert!

Pin It on Pinterest

Share This