Scham – Schuld – Selbstzweifel – Yasemin Tahris

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Ladies Drive Magazine - Yasemin Tahris
Ladies Drive Magazine
Dr. Yasemin Tahris portraitiert und interviewt zum Thema "Scham – Schuld – Selbstzweifel" in der Ausgabe No 60 (Winter 2022/2023).

Dr. Yasemin Tahris

Ladies Drive Magazine - Yasemin Tahris

Co-Founder & Co-CEO FLOWIT AG
www.flowit.ch

Ich habe gelernt, Leistungen vom Selbstwert zu entkoppeln

Wenn ich die Worte „Scham“ und „Selbstzweifel“ höre, dann gehen mir viele Situationen aus meinem beruflichen und privaten Alltag durch den Kopf. Meine Mutter stammt aus einer traditionellen Schweizer Familie, und mein Vater hat einen orientalischen Background. Beide Familien waren nicht begeistert, als sich meine Eltern für den gemeinsamen Weg entschieden haben. Dennoch sind sie früh ihren Weg gegangen – allein und selbstständig. Es war nicht immer einfach – sowohl für sie in der Elternrolle als auch für uns als Kinder. Sie haben unglaublich viel gearbeitet, um uns Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen, und ihr Alltag war geprägt von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen. Schuldgefühle gegenüber der eigenen Familie, schliesslich hat man sich gegen sie und für ein anderes Leben entschieden, und Selbstzweifel, alles richtig zu machen und den Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Natürlich hat das auf mich abgefärbt und meinen Umgang mit den Gefühlen „Scham“ und „Selbstzweifel“ geprägt. Positiv, weil ich gelernt habe, mich immer wieder zu reflektieren, und auch negativ, weil ich mich selbst immer wieder bei den Selbstzweifeln ertappe.

Weshalb Scham und Selbstzweifel häufig gemeinsam auftreten

Die Begriffe „Scham“ und „Selbstzweifel“ sind für mich stark miteinander verbunden. Als Psychologin betrachte ich Emotionen immer durch die fachliche Brille. Die Psychologie differenziert Schuldgefühle von Scham. Scham bezieht sich nicht auf das, was wir tun – sondern auf das, was wir sind. Schuldgefühle empfinden wir, wenn wir etwas Falsches gemacht haben. Mit der Option, es wiedergut- oder das nächste Mal zumindest anders zu machen. Scham entsteht per Definition aber da, wo es diese Möglichkeiten nicht gibt. Unser Sein, unser Wesen, unseren Körper können wir nicht so leicht verändern. Sie sind einfach – so und nicht anders. Wenn wir als Personen direkt und unmittelbar auf diese Weise infrage gestellt werden, sind wir als Ganzes entwertet und beschämt. Dort, wo Scham vorhanden ist, sind auch Selbstzweifel nicht weit entfernt. Im Berufsleben begegne ich Selbstzweifeln immer mal wieder. Meine innere Stimme ist da und sagt mir „Hier gehörst du nicht hin“, „Du bist nicht gut genug“. Dies passiert mir beispielsweise, wenn ich als Speakerin angefragt werde oder an Netzwerkanlässen. Wenn diese Gefühle aufkommen, versuche ich, mit mir selbst zu sprechen, ich arbeite mit positiven Glaubenssätzen. Das gelingt mir mittlerweile sehr gut. In meiner Rolle als Mutter von zwei kleinen Mädchen begegne ich diesen Selbstzweifeln weniger. Dort empfinde ich manchmal Schuldgefühle, beispielsweise wenn ich am Abend nach einem langen Arbeitstag zu müde bin, um grössere Diskussionen auszutragen. Ich habe aber immer das Gefühl, dass ich meine Gefühle gegenüber meinen Töchtern offen ansprechen darf und sie mich als Menschen mit Emotionen wahrnehmen und erleben dürfen. Ich sehe, wie gut es ihnen geht, spüre unsere starke Bindung. Auch wenn meine kleine Tochter, die gerade im Trotzalter ist, einen Wutanfall in der Öffentlichkeit hat. Hier empfinde ich keine Scham, und auch Selbstzweifel in meiner Mutterrolle sind sehr selten. Ich glaube, es ist diese bedingungslose Liebe – hier scheinen Gefühle wie Scham und Selbstzweifel keinen Platz zu haben.

Jede und jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich. Wirklich?

Ich glaube, die Angst, über „Scham“ und „Selbstzweifel“ zu sprechen, ist stark in unserer Kultur verankert. Wir leben in einer „individualisierten“ Kultur, wo davon ausgegangen wird: „Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.“ Es fällt uns schwer, über Unsicherheit zu sprechen, denn wir werden dem starken und stets aufrechten „Ich“ in der Gesellschaft nicht mehr gerecht – Selbstzweifel und Scham machen uns verletzlich und angreifbar.
Den Selbstwert bezeichnen wir in der Psychologie als Bewertung des Bildes, welches wir von uns selbst haben. Dieses machen wir oft auch von anderen abhängig. In den letzten drei Monaten sind mir fachlich sehr kompetente und erfahrene Berufsfrauen begegnet, welche ihre Arbeitsstelle aus wirtschaftlichen Gründen verloren haben. Wenn uns gekündigt wird, ist es oft schwierig, seinen Selbstwert vom Verhalten des anderen zu lösen. Gerade in solchen Situationen ist es wichtig, sich zu sagen: Ich bin kompetent und liebenswert, auch wenn mein Vorgesetzter sich für eine Kündigung entschieden hat.

Was wirklich hilft

Mir hilft dabei ein realistischer Blick auf meine Stärken. Es ist so ähnlich wie bei Kindern: Fühlen diese sich angenommen und verstanden, hilft das viel mehr als ständiges Lob. Ein realistischer Blick auf eigene Stärken dient dem Selbstwertgefühl – und das viel nachhaltiger als ein Karrieresprung oder Social-Media-Fame. Ich weiss, dass ich eine leidenschaftliche und gute Arbeits- und Organisationspsychologin bin und es liebe, andere für diese Sachverhalte zu begeistern.

Ich habe gelernt, Leistungen vom Selbstwert zu entkoppeln und Misserfolge als Entwicklungschance umzudeuten. Es gelingt mir nicht immer gleich gut, aber meistens schaffe ich es, nach einem Misserfolg schnell wieder meine „Mitte“ zu finden und vorwärtszuschauen.

Mein Tipp an andere Frauen

Frauen, welche an sich zweifeln und deshalb nicht zeigen können, was in ihnen steckt, können versuchen, eine selbstwertstärkende Haltung zu verinnerlichen. Ich treffe mich dazu regelmässig mit meiner Mentorin, die mich fachlich und menschlich wunderbar begleitet. Auch Attributionsübungen aus der positiven Psychologie (z. B. Seligman) können hier hilfreich sein. Der heutige Selbstoptimierungszwang kann sehr unter Druck setzen. Das führt dazu, dass viele sich von Tipps zur Selbstoptimierung ohnehin schon gestresst fühlen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es darum geht, sich anzuerkennen und gnädig mit sich selbst zu sein. Auch in unserer Rolle als Berufsfrauen sind wir in erster Linie Menschen – verletzliche, emotionale Wesen –, und das ist gut so und darf so sein.


Weitere Interviews in der Serie „Scham – Schuld – Selbstzweifel“:

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Veröffentlicht am März 04, 2023

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