Zusammengetan haben sich Schwester Ariane und Pfarrer Karl bereits vor vier Jahren. Sie, die Gründerin des Vereins Incontro, der sich im Zürcher Langstrassenquartier um Menschen am Rande der Gesellschaft kümmert, sie auf der Gasse aufsucht, mit Gesprächen und Essenspaketen unterstützt, ihnen im Lokal Primero eine Perspektive aufzeigt, mit Deutschkursen, Beratungen, Wohnungssuche, ihnen kostenlose medizinische Untersuchungen anbietet. Er, Pfarreradministrator in der katholischen Kirche Küsnacht/Erlenbach und analytischer Psychologe, der schon auf der ganzen Welt als Gassenarbeiter tätig war und mit Straftätern gearbeitet hat. Als die Pandemie ausbrach, haben sie nicht lange überlegt: Notschlafstellen schlossen, ebenso Bordelle, Imbiss- stände, Beratungsstellen. Die Not der Menschen auf der Gasse wuchs. Sie organisierten kurzerhand eine Freiluft-Gassenküche, bei der sie seither täglich, hinter dem 25 Hours-Hotel, bis zu 400 warme Mahlzeiten verteilen.
Die Mahlzeiten beziehen sie mit Spenden- geldern zum Einkaufspreis vom Restaurant des Hotels. Auch Detailhandelsketten und andere umliegende Restaurants wie das Kinkhao oder der Thaistreetfood-Truck Aroimak steuern Essen bei. Schnell hat sich rumgesprochen, dass hier zwei Menschen beherzt und niederschwellig anderen helfen. Auch bei den freiwilligen Helferinnen und Helfern, die Schwester Ariane Stocklin und Pfarrer Karl Wolf bei ihrer Arbeit unterstützen. Besammlung für den täglichen Einsatz ist um 16.45 Uhr hinter dem Helvetiaplatz. Dort werden die Grundnahrungsmittel und Essenspakete, die auch Privatpersonen und Pfarrei-Angehörige beisteuern, in Bollerwagen verteilt und die Truppe auf die bevorstehende Aufgabe eingestimmt. „Das hier ist keine milde Gabe“, betonen Schwester Ariane und Pfarrer Karl. „Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe.“ Schwester Ariane Stocklin (48)und Pfarrer Karl Wolf (66) sprechen mit derselben Dringlichkeit und derselben Sensibilität für die Not der Menschen auf der Gasse – sie nennen sie „die Freunde von der Gasse“. Wenn sie später, mit der Truppe von Helferinnen und Helfern, zwischen den Bollerwagen die Schlange entlanggehen, werden sie fast wie Popstars empfangen, mit Corona-konformen Faustgrüssen, kurzen Umarmungen, von Menschen, deren Namen und Schicksale sie kennen, die sie herzlich begrüssen, aber auch immer wieder mit einem flotten Spruch, einer Prise Humor oder einer spezifischen Frage zur Tochter, die gerade eine Ausbildung angefangen hat, oder der Frau, die heute, anders als sonst, nicht in der Reihe wartet. Später, wenn die warmen Mahlzeiten hinter dem 25 Hours-Hotel verteilt sind, bewegt sich die Truppe mit Schwester Ariane und Pfarrer Karl Richtung Bordelle und Drogenplatz, um die verbleibenden Nahrungsmittel und Hygie- neartikel zu verteilen. Während die beiden auch hier Gespräche über Alltagssorgen führen, Anmeldungen für kostenlose Impfungen aufnehmen, die eine Apothekerin im Quartier anbietet, bleibt den Helferinnen und Helfern Zeit, die eigenen Wertvorstel- lungen zu überprüfen, sich zu fragen, was einem eigentlich wirklich durch den Kopf geht, wenn man Menschen jenseits der eigenen Komfortzone trifft – und ob man ihnen tatsächlich auf Augenhöhe begegnet.
Kurz vor zehn Uhr abends fallen Schwester Ariane und Pfarrer Karl in der Küche ihres Lokals Primero erschöpft auf die Stühle und erzählen bei einem Kaffee von ihrer Arbeit – später werden sie nochmals losziehen und für heute allerletzte Essenspakete vorbeibringen, dort, wo sie auf dem Rundgang mit leeren Bollerwagen vorerst nur Versprechen zurück- lassen konnten.
Ladies Drive: Schwester Ariane, Pfarrer Karl, welche Bilder gehen euch durch den Kopf, bevor ihr abends einschlaft?
Pf. Karl: Ich lese manchmal vor dem Einschlafen noch einen Krimi. Ich liebe Krimis, und zwar Psychokrimis. Ich finde psychologi- sches Profiling mega-interessant. Da kann ich abschalten und runterfahren und trotzdem einen Teil meiner Profession als analytischer Psychologe pflegen. Sr. Ariane: (Lacht). Ich nehme ein warmes Bad und geh dann nochmals in die Stille, lasse den Tag Revue passieren, denke an die Begeg- nungen, die Gesichter der Menschen. Mit welcher Haltung meistert ihr eure Arbeit? Sr. Ariane: Ich habe nicht den Anspruch, das Problem des Gegenübers zu lösen, ich will in erster Linie einfach da sein. Zuhören, dann kommen einem auch die Ideen für den nächsten Schritt. Durch meine eigene Biografie – mein Bruder lebte auch auf der Gasse – weiss ich, dass Abgrund und Leiden und Schmerz genauso zum Leben gehören wie das Schöne.
Wann stosst ihr an Grenzen?
Pf. Karl: Heute Abend zum Beispiel hat mich eine Frau fest umarmt und mir dabei gesagt: Bitte vergiss mich nicht, bete für mich, mir geht’s überhaupt nicht gut. So etwas geht mir sehr nah. Dann merke ich, dass ich ihre Situation nicht komplett verändern oder verbessern kann. Ich kann beten, klar, das mache ich auch. Aber am liebsten würde ich sie aus diesem Elend herausholen. Sr. Ariane: Man stellt sich ja theoretisch vor, ein Ausstieg bedeute immer, das Milieu ganz zu verlassen. Aber manchmal passiert er auch anders, auf einer viel subtileren Ebene. Zum Beispiel kürzlich bei einer Frau im Quartier. Sie plant keinen Ausstieg, aber durch die Gespräche und Begegnungen auf Augenhöhe hat sich etwas in ihrer Selbstwahrnehmung verändert.
In der Schlange warten längst nicht mehr nur Menschen aus dem Milieu auf eine warme Mahlzeit.
Sr. Ariane: Nein, es gibt auch viele, die durch Corona in wirtschaftliche Not geraten sind. Ob ein Mensch in Not oder gar obdachlos ist, siehst du ihm oft nicht mit einem Blick an.
Ihr erlebt viel Solidarität. An manchen Tagen stehen hinter dem 25 Hours-Hotel Nahrungs- und Hygieneartikel bereit, wenn ihr ankommt.
Pf. Karl: Ja, von denen wir gar nicht wissen, woher sie kommen. Viele Menschen sind hilfs- bereit. Alle, die unsere Arbeit so solidarisch und engagiert unterstützen, sie sind für uns Helden und Heldinnen des Alltags. Sr. Ariane: Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Solidarität abnimmt, nun, da alle wieder mehr in Bewegung kommen, die Menschen ihrer Arbeit nachgehen. Aber die Not auf der Gasse wird nicht kleiner, im Gegenteil. Deshalb sind wir auf Unterstützung dringend angewiesen und sehr dankbar dafür.
Wann erlebt ihr Enttäuschungen?
Pf. Karl: Zum Beispiel kürzlich bei einem Mann, der ohne Aufenthaltsbewilligung zu uns gekommen ist. Er hat unser Angebot zur Integration, die ein mühsamer Weg mit vielen Schritten ist, ausgeschlagen. Jetzt ist er wieder auf der Strasse. Er holte bei uns einen Schlafsack. Ohne Arbeit muss er nun demnächst ausreisen. Solche Situationen sind frustrierend. Sr. Ariane: Das Wichtigste ist aber, trotz allen Aufs und Abs die Beziehung zu dem Menschen zu halten und weiterhin für ihn offen da zu sein.
Wie egoistisch ist eure Arbeit?
Pf. Karl: (Überlegt kurz und schmunzelt). Hundert Prozent. Wenn du einer Arbeit oder einer Berufung nachgehst, bei der du dich gut und wohlfühlst, hat das immer auch einen narzisstischen Aspekt. Wir Menschen fühlen uns gut und bestätigt, wenn wir anderen helfen, die Leute bedanken sich, dann fühlen wir uns noch besser. Schlimm ist das aber erst, wenn du diese Tatsache nicht mehr erkennst, wenn sie bestimmend wird.
Wie geht ihr damit um?
Pf. Karl: Es ist sehr wichtig, sich immer wieder stark zu reflektieren, sich bewusst zurückzu- nehmen; stattdessen die Menschen, die wir unterstützen wollen, zu fragen: Was brauchst du wirklich? Brauchst du das, was wir dir hier anbieten? Und dann auch genau hinzuhören, was sie dir sagen. Sr. Ariane: Ganz wichtig ist bei unserer Arbeit, auch in unserer Zusammenarbeit und mit mir selbst: die Wahrheit. In dem Spannungsfeld, in dem wir uns täglich bewegen, funktioniert alles andere schlicht nicht. Auch nicht im Austausch mit den Menschen auf der Gasse. Denn sie konfrontieren dich ständig mit der Frage: Wer bin ich, was hat das mit mir zu tun? Und bin ich als Mensch denn wirklich besser als beispielsweise die Frauen im Milieu, nur weil ich ein anderes, ein akzeptierteres Leben führe? Sich dieser Frage ernsthaft zu stellen erfordert Mut, ist aber auch eine riesige Chance. Jeder „bedürftige“ Mensch auf der Gasse ist eine Riesenchance für mich, für uns alle – uns selbst immer wieder gründlich zu reflektieren. Infos zum Verein Incontro, zu dem Lokal Primero und Möglichkeiten, als freiwillige Helfende oder finanziell zu unterstützen: www.incontro-verein.ch