Diese Frage stellt sich nicht erst seit dem rasanten Aufkommen von KI-Innovationen – sie ist schon seit Längerem zentral im Kontext von „Responsible“ und „Human Centered“ Innovation.
Die Antwort muss kontextabhängig gegeben werden. Faktoren wie die Branche, die Strategie, die Wettbewerbsintensität, die technologische Dynamik und das regulatorische Umfeld eines Unternehmens spielen – zusammen mit Art und Ansprüchen der Kunden – eine wichtige Rolle, will man die Angemessenheit der Innovationsgeschwindigkeit für sich bestimmen. In der Medienbranche ist ein schnelles Tempo oft angezeigt, da sich der Markt sehr schnell verändert. Das Gesundheitswesen hingegen erfordert tendenziell Sicherheit und Stabilität. Geht es um das Erreichen schneller Marktanteile, muss rascher agiert werden, als wenn eine nachhaltige Differenzierung angestrebt wird.
Differenzierung am Markt braucht mehr als nur Speed. Das unternehmensspezifische Zusammenspiel von Geschwindigkeit und Innovationskraft ist entscheidend. Führende Unternehmen überzeugen nicht nur durch Geschwindigkeit, sondern vor allem durch eine effektive Innovationsfähigkeit – gestützt auf Technologiekompetenz und bewährte Managementpraktiken. Erfolgsrelevant sind hier die unternehmerischen Führungsqualitäten, die Fähigkeit, Daten für die Innovation zu nutzen, und der Aufbau eines Innovationsökosystems. Schnelligkeit bringt keinen Vorteil, wenn die restliche Innovationsleistung nicht stimmt.
Bezogen auf den Innovationsprozess fragt man sich am besten: „Wo muss ich Gas geben und wo kann ich bremsen, um mehr Klarheit, Fokus und kreative Energie freizusetzen?“ Hier einige Ansatzpunkte:
Ideenfindung und Konzeptentwicklung: In der frühen Phase der Innovation ist es sinnvoll, ausreichend Zeit für die Generierung und Bewertung von Ideen sowie das Einholen von Schlüsselinformationen einzuplanen. Eine zu schnelle Auswahl kann dazu führen, dass Potenziale übersehen oder unausgereifte Ansätze verfolgt werden. Ein strukturierter Innovationsprozess, der Zeit für Reflexion, die Beantwortung auch von (unangenehmen) Fragen („Was wenn?“) und Iterationen lässt, erhöht die Erfolgsquote. Eine nette Anekdote: Im frühen 20. Jahrhundert beförderte der Kopf der deutschen Armee, Kurt von Hammerstein-Equord, nicht diejenigen Soldaten, die am härtesten arbeiteten, sondern diejenigen, die (wohlgemerkt bei hoher Intelligenz) am faulsten waren. Er hatte nämlich festgestellt, dass diese in der Zeit, in der sie vermeintlich „faulenzten“ oder mit anderen über Themen abseits der Arbeit plauderten, die kreativeren Strategien entwickelten. Er wird wie folgt zitiert: „Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit.“
Komplexe oder radikale Innovationen: Die Komplexität einer Innovation selbst scheint kein Faktor zu sein, der grundsätzlich eine längere Time-to-Market erfordert. Allerdings ist bei disruptiven oder technologisch anspruchsvollen Projekten eine gründliche Analyse unerlässlich. Entschleunigung kann sinnvoll sein, um mithilfe von Aktivitäten im Feld, Round Tables oder Interviews Risiken zu minimieren, Machbarkeiten zu bewerten und tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln. Verbringt man beispielsweise mehrere Tage im Leben eines Patienten mit Demenz, kann man ein tieferes Verständnis für Problemstellungen und valide Lösungsräume entwickeln.
Nachhaltige Innovationen: Nachhaltigkeit erfordert ein tiefes Verständnis ökologischer und sozialer Auswirkungen. Ein zu schneller Innovationsprozess kann dazu führen, dass wichtige Nachhaltigkeitsaspekte übersehen werden. Langsamkeit ermöglicht es, Stakeholder einzubinden und tragfähige Lösungen zu entwickeln. Es braucht Zeit, Beziehungen mit Betroffenen aufzubauen – der Lohn dafür wird mehr Diversität, ein besserer Blick auf den Lösungsraum der Innovation und damit eine breitere Akzeptanz am Markt sein.
Ressourcenmanagement: Es besteht Evidenz, dass Geschwindigkeit vor allem in „vorhersehbarem Kontext“ Erfolg verspricht, wenn Ressourcen und Technologien bekannt sind und die Marktvorhersagen verlässlich. Gerade bei begrenzten Ressourcen (z. B. in KMU) wird es wichtig, Innovationsprojekte sorgfältig zu priorisieren und Ressourcen gezielt einzusetzen. Ein langsameres Vorgehen hilft, Überlastung zu vermeiden und die erfolgversprechendsten Ideen zu identifizieren. James Dysons Staubsauger war kein Produkt, das von heute auf morgen entstand. Vielmehr verfolgte Dyson einen organischen, iterativen Prozess, den er selbst als eher langsam beschreibt. Man bedenke, dass mehr als 5.000 Prototypen gebaut wurden, bevor der erste Dyson-Staubsauger lanciert wurde.
Kulturwandel und Mitarbeiterbeteiligung: Der Aufbau einer innovationsfreundlichen Unternehmenskultur und die Einbindung der Mitarbeitenden benötigen Zeit. Langsamkeit ist notwendig, um Zuspruch zu erlangen, Lern- und Denkprozesse zu ermöglichen und Veränderungen dauerhaft zu verankern. Bill Gates ist dafür bekannt, dass er jährliche „Denkwochen“ abhält, zu denen er scheinbar wahllos Lesestoff mitbringt – das ermöglicht ihm zwar sicher kein schnelles, aber dafür ein umso freieres Denken und Explorieren. Ohne die Verbindung von Informationen aus scheinbar unabhängigen Bereichen entstehen selten bahnbrechende Neuheiten.
Marktakzeptanz von Ideen: Eine gewisse Geschwindigkeit in Sachen Innovation kann die Neugier am Markt fördern. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass zu schnell hintereinander lancierte Innovationen Nutzer überfordern können, sodass das Interesse am Markt an Neuheiten sinkt.
„Slow Innovation“ soll kein Versuch sein, die Dinge nur der Langsamkeit wegen zu entschleunigen oder faul zu sein. Sie hat hingegen ein Ziel: die Aufmerksamkeit weg von purer Geschwindigkeit oder Effizienz auf andere Werte wie Antizipation, Integration, Reflexivität und Reaktionsfähigkeit zu lenken.
Manchmal entsteht die beste Idee eben nicht im Sprint, sondern im Innehalten. Slowness ist kein Rückschritt, sondern eine Entscheidung für Relevanz.