Kurz gesagt ist die emotionale Intelligenz die Fähigkeit, unsere eigenen Emotionen zu erkennen, zu verstehen und zu managen sowie die Emotionen anderer zu lenken und nachzuvollziehen respektive einordnen zu können.
Studien des Institute for Health and Human Potential in den USA weisen darauf hin, dass Menschen mit einem hohen emotionalen Intellekt zu 85 bis 90 Prozent den Anforderungen für aussergewöhnliche Performance und Leadership entsprechen.
Was wir in Tat und Wahrheit zurzeit beobachten können, ist einer der grössten Paradigmenwechsel der Moderne: weg vom klassischen, vernunftbasierten (häufig soziopathisch-patriarchal angehauchten) Führer-Führungsmodell hin zu Führung als Dienstleistung, gepaart mit emotionaler Intelligenz, die uns ermöglicht, in dieser neuen Weltordnung die begehrteste Währung des Planeten zu ergattern: Vertrauen und nachhaltige, wahrhafte Beziehungen.
Deshalb haben wir fünf aussergewöhnliche Businessladies eingeladen, ihre Gedanken zur emotionalen Intelligenz aus Sicht einer Leaderin mit uns zu teilen – und sich im unfassbar schönen Ambiente des Hotel B2 in Zürich, inmitten von 6.000 Büchern, ablichten zu lassen. Und das nicht ohne Grund. Denn wir haben unsere Ladies gebeten, jenes Buch ans Fotoshooting mitzubringen, welches ihnen in diesem Themenbereich am meisten die Augen geöffnet hat.
Entstanden ist nicht nur eine bemerkenswerte Fotostrecke, sondern auch wundervolle Texte zur Psyche moderner Leaderinnen und Leader mit ganz viel Tiefgang.
Nicole Neubauer

CEO metaBeratung, eine Managementberatung mit Fokus auf Persönlichkeit,
Unternehmerin und Career Development Manager
Bescheidenheit & Engagement
Es kommt heute eine Generation in Top-Positionen, die nicht prinzipiell an Karriere und Geld interessiert ist, sondern an einem inspirierenden Umfeld, das ihren individuellen Purpose erfüllen kann. Dafür braucht es Führungskräfte mit einem hohen Mass an emotionaler Intelligenz, das es erlaubt, sich über die eigenen Emotionen im Klaren zu sein und die anderer zu erkennen, um ein stabiles und inspirierendes Arbeitsumfeld zu schaffen. Es geht heute weniger um Top-down-Führung als um Führung auf Augenhöhe. Das bedeutet motivieren und fördern – sich selbst und andere.
In unserer Studie zur digitalen Transformation (metaBeratung & IMD Business School, 2016) haben wir erkennen können, dass Bescheidenheit und Engagement zwei soziale Kompetenzen sind, die Führungskräfte heute brauchen, um Teams für den Wandel zu begeistern und mitzuziehen. Mit Bescheidenheit meinen wir weniger die Tugend selbst, sondern die Fähigkeit, einen Schritt zurück zu machen und anzuerkennen, dass in meinem Team jemand mehr weiss als ich. Covid hat diese Entwicklung in den letzten zwei Jahren noch massiv verstärkt – insbesondere die Zusammenarbeit in Teams wurde im Homeoffice schwieriger, und Führungskräfte waren und sind mehr denn je gefordert, ihre Mitarbeitenden zu fördern.
In der virtuellen Welt geht die Unmittelbarkeit der emotionalen Erfahrung verloren.
Die Doppelbelastung auf beiden Seiten durch Homeschooling, gesundheitliche Sorgen und die Verantwortung für ein Business/einen Job erhöht zusätzlich das Stresslevel. Darum müssen Führungspersönlichkeiten eine hohe Selbstführungsfähigkeit besitzen, damit Energie und Motivation in ihren Teams hoch bleiben.
Veränderungsbereitschaft beginnt immer auf der Führungsebene. Wer führen will, muss den Mut haben, sich selbst infrage zu stellen, und sich dadurch weiterentwickeln zu können. In meiner täglichen Arbeit liegt der Fokus zunächst auf der Förderung der strategischen Selbsterkenntnis des Einzelnen. Selbsterkenntnis bedeutet, eigene Schwächen und Stärken zu kennen und richtig einzuschätzen. Sich mit sich selbst und seinen Emotionen auseinanderzusetzen kann ein durchaus schmerzhafter Prozess sein. Dieser Prozess ist aber unabdingbar, weil jemand die eigenen Emotionen nur dann gezielt steuern kann, wenn er sich selbst kennt. Zu oft tendieren Führungskräfte dazu, ihre eigenen Emotionen in den Mittelpunkt zu stellen oder anderen überzustülpen.
EI kann man trainieren, indem man offen ist für Fremdeinschätzungen und kritisches Feedback.
Es geht darum, sich und seine Emotionen zu hinterfragen, damit das Fremd- und Eigenbild am Ende möglichst übereinstimmen. In meinem Team nutzen wir auch Persönlichkeitsassessments, die u. a. die emotionale Intelligenz analysieren. Dabei werden Dimensionen wie Bewusstsein, Selbstkontrolle, das Erkennen von Emotionen anderer und Empathie gemessen.
So kann ich besser verstehen, was andere fühlen und warum sie sich auf eine bestimmte Art verhalten. Ich lerne, besser mit Druck umzugehen und auch in stressigen Situationen gelassen zu bleiben. Gerade in Berufen mit einer hohen sozialen Interaktion – und diese nehmen in einer global vernetzten Welt überproportional zu – sind das Verständnis der eigenen Emotionalität und das Erkennen der emotionalen Befindlichkeiten anderer essenziell.
Mein Rat an andere Leaderinnen:
Der EQ weit mehr als der IQ entscheidet am Ende, ob meine Persönlichkeit als bereichernd und inspirierend empfunden und dadurch der Wandel befördert wird. Für die nächste Generation wird nicht Geld oder eine bestimmte Position als erstrebenswert betrachtet werden, sondern ein Umfeld, in dem Selbstentfaltung und eine ausgeglichene Work-Life-Balance geboten werden. Ohne einen hohen EQ wird das nicht zu erreichen sein.




Jamie Vrijhof-Droese

Managing Partner, WHVP
Vermögensverwalterin und Vorstandsmitglied des Verbands Schweizerischer Vermögensverwalters
Hauptindikator für Erfolg
Als Leader:innen sind wir aktuell mehr gefordert denn je. Weshalb könnten eine Transformation hin zu einer empathischeren Leadership und der Einsatz unserer emotionalen Intelligenz ein wahrer Gamechanger sein in diesen Zeiten?
Die letzten zwei Jahre haben unsere Welt auf den Kopf gestellt. Ängste und konstante Veränderungen waren tägliche Begleiter. Zusätzlich wird durch Homeoffice die Abgrenzung zur Arbeit für das gesamte Team zunehmend schwieriger. In solch unsicheren und turbulenten Zeiten ist es wichtiger denn je, Mitarbeitende und Kolleg:innen als ganzheitliche Menschen zu betrachten und sich für ihr Wohlbefinden einzusetzen. Ehrliches Interesse am Gegenüber sowie Empathie sind hier der Schlüssel zum Erfolg.
Es geht hier natürlich auch darum, das Richtige zu tun, man sollte dabei aber nicht aus den Augen verlieren, dass das Engagement der Mitarbeiter:innen und als Grundlage dafür emotionale Intelligenz genauso eine ökonomische Frage ist. Teammitglieder, die sich wertgeschätzt fühlen, tragen mehr zum Unternehmen bei und fallen tendenziell weniger häufig aus. Gerade in Zeiten von Homeoffice und physischer Distanz kann ein „Check-in“ zum emotionalen Wohlbefinden und Stresslevel daher einen entscheidenden Unterschied machen.
Welche Talente bräuchten Führungskräfte zurzeit, um diese Leadership-Transformation hinzukriegen?
„Self Awareness“ sowie das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Änderung im Bereich Leadership sind sicherlich die ersten Schritte. Es braucht, wie bereits erwähnt, ehrliches Interesse am Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen. Davor müssen sich Führungskräfte aber zuerst ihrer eigenen Emotionen bewusst werden. Wir müssen realisieren, was wir fühlen und weshalb. Ebenfalls wichtig ist, sich bewusst zu werden, welchen Einfluss die eigenen Emotionen auf andere haben.
Danach sind Authentizität gefragt und die Offenheit, über eigene Emotionen zu sprechen. Das kann am Anfang herausfordernd sein, ist aber essenziell, um sich mit den Emotionen des Teams zu verbinden. Führungskräfte müssen auch lernen, besser zuzuhören und präsenter zu sein. Sie sollten eine Unternehmenskultur schaffen, in der auch über private Erfolge und Herausforderungen gesprochen werden kann und Mitarbeitende nicht als eindimensionale Leistungsbringer gesehen werden.
Wie kann man sich in emotionaler Intelligenz üben?
Emotionale Intelligenz ist eine Fähigkeit, die man fortlaufend ausbauen und perfektionieren kann. Sich aktiv Zeit für Selbstreflexion zu nehmen ist ein guter Anfang. Um andere Leute zu unterstützen, muss ich die emotionale Kapazität haben, mich der Bedürfnisse meiner Mitmenschen anzunehmen. Dazu braucht es eine Routine, um sich mit den eigenen Emotionen zu verbinden. Was es ebenfalls braucht, sind Optimismus und Geduld. Veränderungen finden im Normalfall nicht über Nacht statt, sondern sind Prozesse, die sich über längere Zeit hinstrecken.
Was rate ich anderen Leader:innen?
Beginne, Situationen und Menschen aktiv zu beobachten. Beweg dich weg von „Small Talk“ und fang an, mehr ernsthafte Gespräche zu führen. Es braucht Mut, mehr über eigene Ängste und Versagen zu sprechen, aber dafür es macht dich automatisch ehrlicher und authentischer. Hol dir Feedback von Familie, Freunden und Teammitgliedern. Fang an, anderen Menschen zuzuhören, ohne ihnen direkt eine Lösung für ihre Situation präsentieren zu wollen. Setz dich mehr mit dir selbst auseinander. Was sind deine Stärken und Schwächen? Was gibt dir Energie, und was raubt sie dir? Je besser du dich selbst kennenlernst, desto besser wirst du andere Menschen verstehen lernen.
Mein Fazit:
Emotionen sind Teil der menschlichen Erfahrung. Es gibt weder gute noch schlechte Emotionen. Sie sind schlicht Signale, die uns helfen, die Welt um uns herum besser zu verstehen und zu ordnen. Sie sollten wertneutral akzeptiert werden, wie wir sie eben empfinden.
Wir alle sind auf einem Weg und sollten besser darin werden, unsere Emotionen ehrlich mit anderen zu teilen. Das Schöne daran ist, dass ein hohes Mass an emotionaler Intelligenz ein Hauptindikator für Erfolg und im Gegensatz zum klassischen IQ erlernbar ist und fortlaufend verbessert und ausgebaut werden kann.




Maria Larsson

Mitglied der Geschäftsleitung & Verwaltungsrätin HTC High-Tech-Center AG,
Verwaltungsrätin SBW Haus des Lernens AG,
Kunsthistorikerin
Kunstreisen Verein,
Kunstfreunde Zürich
Gelassenheit
In meinem persönlichen Werdegang hatte ich, mit ganz wenigen Ausnahmen, das grosse Glück, fast ausschliesslich auf empathische Leadership zu stossen. Die Kultur- und Bildungsbranche zeichnet sich ganz generell durch ein hohes Mass an Werten wie Motivation, Sozialkompetenz und Selbstwahrnehmung aus. Die Verbindung von Idealismus, „thinking outside of the box“ und realistischem Unternehmertum versuche ich auch heute in meinen unterschiedlichen Positionen weiterzuleben. Eine der grössten Herausforderungen sehe ich in einer immer stärker werdenden Individualisierung des Einzelnen in Kombination mit steigender Intoleranz gegenüber dem Gedankengut „des anderen“. Kurz gesagt: Wir sind in der Ära der „Filter-Bubbles“ gefangen. Wir bewegen uns fast nur noch in Kreisen, welche unsere eigenen Überzeugungen teilen und bestätigen. Emotionale Intelligenz kann als ausgleichende Kraft hier ansetzen, indem wir wieder das Zuhören und das Verständnis für unser Gegenüber ins Zentrum stellen. Wir brauchen wieder mehr Neugier, Achtsamkeit und Mut, uns auf Neues einzulassen.
Empathische Leadership beinhaltet die Erschaffung eines gemeinsamen Raums, in dem Menschen innerhalb einer Gruppe ihre ganz persönlichen Talente entfalten können und aktiv dazu ermuntert werden, eigene Ideen und Visionen einzubringen. Wertschätzung und Kommunikation auf Augenhöhe sind dabei zentral. Als Leader:in muss man Ziele ganz klar formulieren. Empathische Leader:innen wissen genau, wohin sie wollen, wie viel sie von der eigenen Vision auf andere abwälzen können und wo klare Grenzen der Belastbarkeit überschritten werden. Wie diese Ziele schlussendlich dann erreicht werden, sollte aber möglichst frei gestaltbar bleiben, basierend auf den besten Fähigkeiten des Einzelnen.
Wie können Führungskräfte diese Leadership-Transformation hinkriegen?
Als Führungskraft brauche ich vor allem zuerst eine beträchtliche Portion Selbsteinsicht. „Wo liegen meine Talente, und welches sind meine Schwächen?“ Anstelle von Schwäche könnte man vielleicht auch Desinteresse nennen, denn alles, was wir ohne Leidenschaft ausführen, wird zwangsläufig nur halb so gut. Als weitere Komponenten würde ich Bescheidenheit kombiniert mit einem sehr guten Selbstbewusstsein nennen. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir heute alles selbst verstehen, beherrschen und erledigen können. Das vermochten vielleicht noch die Universalgelehrten der Renaissance, die einen Grossteil des damals bekannten Wissens in einer Person vereinen konnten. Heute muss ich einsehen, dass ich den Überblick behalten muss, aber die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze innerhalb Europas, das neue James-Webb-Teleskop oder die genaue Entstehung eines Ethereums nie ganz begreifen werde. Vor allem, wenn ich gleichzeitig auch noch die Namen aller relevanten zeitgenössischen Künstler:innen in meinem Kopf behalten möchte. Mit „No man is an island“ brachte es John Donne bereits 1624 auf den Punkt. Wir sind als Menschen Teil eines grossen Geflechts. Wenn wir das Netz weiterspinnen und ausbauen, ohne es an den Rändern zu zerreissen, werden wir schon sehr viel erreicht haben. Die Schönheit des Menschseins liegt in unserer Vielfältigkeit. Nutzen wir diese nicht, verpassen wir unsere besten Chancen. Im Handlungsbereich der emotionalen Intelligenz angesiedelt wäre meiner Meinung nach aus diesem Grund auch die Einsicht, dass keine gerechte CEO-Entlöhnung das Tausendfache eines/einer Angestellten sein kann, wie dies heute in gewissen Branchen immer mehr zur Regel wird.
Emotionale Intelligenz kann man trainieren. Wieso eigentlich nicht bereits in der Schule?
Man sollte bereits in der Schule Felder vorfinden, wo man mit der eigenen Leidenschaft Projekte anstossen kann und wo man auch scheitern darf, aber gleichzeitig Biss entwickeln kann. Je mehr man sich mit seiner Leidenschaft auseinandersetzt, desto mehr stellt man fest, dass weitere Fortschritte auch zunehmend schmerzlich sein können – das braucht Resilienztraining. Wer Neues beginnt und wagt, seinen Träumen nachzugehen, wird auf Widerstand stossen von denen, welche nichts ändern wollen. Das muss man aushalten können. Resilienz und Leidenschaft sind aber starke Triebfedern des eigenen Glücks. Lesen Sie ausserdem so viele Bücher wie möglich. Nie werden Sie tiefer in die Gedankenwelt anderer Menschen eintauchen können. Treffen Sie so viele und so unterschiedliche Menschen wie möglich. Emotionale Intelligenz können wir verfeinern, indem wir uns mit offenem Blick auf andere Menschen einlassen. Im digitalen Zeitalter werden heute viele interpersonelle Begegnungen direkt ins Netz verlagert. Für den Ausbau der emotionalen Intelligenz des Einzelnen kann das auch ein Rückschritt sein. Dies sollten wir im Auge behalten. Die steigende Vereinsamung in westlichen Gesellschaften ist eine Herausforderung.
Dos & Don’ts
Als Erstes braucht der Mensch Respekt und Selbstreflexion. Dies muss im Elternhaus und in der Schule vorgelebt werden. Wir sollten versuchen, die Talente und Stärken unserer Mitmenschen zu erkennen und zu fördern; bei Freunden, Kindern, Bekannten oder Verwandten nicht an Zuspruch und Motivation sparen, wenn ihnen etwas Gutes gelingt. Fehler zu begehen und zu scheitern gehören zum Leben und sollten als Lebenserfahrungen eigene Wertschätzung bekommen. Emotionale Intelligenz beinhaltet auch die bewusste Wahl – jeden Tag aufs Neue –, die eigenen Frustrationen und Unzulänglichkeiten nicht auf andere abwälzen zu wollen.
Mein Rat an andere Leader:innen:
Kunst und Kultur sind für mich Antennen emotionaler Intelligenz. Durch sie können wir uns in andere Welten versetzen lassen. Mich interessiert als Kunsthistorikerin und Unternehmerin, wie man Kunst in den Alltag integrieren kann und ob diese einen direkten Effekt auf unser Befinden hat. Am Talent Campus Bodensee konnte ich bereits viele dieser Ideen umsetzen, denn die Lernenden sind täglich von Kunst umgeben. Ab Sommer 2022 kommt auch der Talentcampus Zürichsee in Wurmsbach dazu.
Gute Kunst stellt immer mehr Fragen, als sie Antworten liefert, und zwingt uns somit, uns immer wieder selbst darin zu spiegeln.




Nicole Brandes

Internationaler Management Coach, Bestseller-Autorin und gefragte Vortragsrednerin
Den Erfolg nicht nur haben, sondern spüren
Wenn wir es auf das Wesentliche bringen, dann sehnt sich das Wesen des Menschen schlussendlich immer nach einem: sich gut zu fühlen. Das Leben findet in den Emotionen statt. Erst Recht im Sturm. Ein guter Grund, sich gekonnt damit auseinanderzusetzen.
Das Problem ist, vermutlich haben Sie das – wie die meisten – eher per Zufall gelernt. Wir leben in einer Kultur, in der Emotionen von der Gesellschaft argwöhnisch betrachtet werden. Aus Angst, sich preiszugeben und sich verletzlich zu machen. Dabei wird erwartet, dass Sie leidenschaftlich Ihren Job machen, die Emotionen geben Sie aber bitteschön lieber an der Eingangspforte ab! Wir geben vor, cool zu sein. Mit dem Resultat, dass viele Menschen emotional asketisch, ja sogar unterernährt leben. Sie bekommen ein Loch in die Seele und Gitterstäbe im Herzen. Das hilft weder der Kultur noch der Performance. Und in diesem Mega-Change wird der Mensch noch mehr auf sich selbst zurückgeworfen. Wir leben im Dauer-Ausnahmezustand. Und das löst zusätzlich enormen Stress, Verunsicherung und Verlustängste aus. Das haben die letzten zwei Jahre deutlich gezeigt. Je mehr Volatilität und Ungewissheit im Aussen, desto mehr braucht es Stabilität und Sicherheit im Innen. Das lösen wir nicht mit harten Faktoren. Emotionale Intelligenz ist also dringlich und wesentlich. Aber sie gekonnt anzuwenden braucht Raum und Zeit. Das ist anspruchsvoll in einem Umfeld der operativen Hektik.
„Selbstführung ist die einzige Führung, die zählt im 21. Jahrhundert“ laut Peter Drucker.
Selbstführung bedeutet unter anderem, dass Sie sich selbst nicht verlieren, vor allem wenn alles Vertraute wegbricht. Den Spagat zu beherrschen, anderen mitfühlend zu begegnen und sie zu stärken und dabei die eigene Verletzlichkeit zu managen. Lassen Sie uns das „emotionale Reife“ nennen. Nicht um verbale Haarspalterei zu betreiben, sondern um Sie spezifisch an diesen Aspekt zu erinnern. Es ist immer wieder erschütternd, wie Führungspersönlichkeiten sich selbst vergessen und mit aller Härte mit sich umgehen. Und daran leiden!
Hinzu kommt die wichtige Fähigkeit der Transzendenz: nicht nur im Sturm zu bestehen, sondern über sich selbst hinauszuwachsen. Das bedeutet, diesen aussergewöhnlichen Bewusstseinszustand zu erreichen, in welchem Sie neue Kräfte in sich entdecken, sie abrufen und zu Höchstform auflaufen können. Mihaly Csikszentmihalyi beschreibt das mit dem Begriff „Flow“. Er meint, das passiere nicht in einem Moment der Entspannung oder der Ablenkung. Sondern, genau dann, wenn Sie sich auf ein schwieriges Unterfangen einlassen. Wenn Ihre physischen und geistigen Kräfte aufs Äusserste angespannt sind und Sie sich voll konzentriert in eine neue Energie einschwingen. Wie der Segler, der sich im grössten Unwetter eins fühlt mit dem Schiff, dem Wind und den Wellen. Auch darauf können Sie sich vorbereiten.
Emotionale Intelligenz trainieren!
Das sollte zu jeder Grundausbildung gehören. Das beginnt mit Selbstkenntnis. Das hat nichts – wie manche befürchten – mit Psychotherapie oder Esoterik zu tun. Sondern mit dem vollen Ausschöpfen der eigenen Fähigkeiten. Das kann sehr bewegend sein. Was wollen Menschen nach dem Erfolg? Mehr Erfolg! Aber einen mit Substanz, Sinn und innerer Zustimmung. Einen Erfolg, den sie nicht nur haben, sondern auch spüren. Dazu gilt es, nicht die dunklen Gefühle auszusperren, um schmerzfrei durchs Leben zu gehen. Sie verunmöglichen damit, dass die hellen Gefühle wie Freude, Begeisterung und Ekstase zu Ihnen fliessen können. Gefühle kommen immer im Doppelpack. Ohne sie können Sie vielleicht unantastbar und mit Zynismus funktionieren. Aber mit ihnen kommt dieses unbändig gute Gefühl, bei dem Sie sich stark und lebendig fühlen.
Stärke hat man nicht, sondern lebt sie.
Dann, wenn Sie sich selbst treu bleiben. Dazu gilt es, die eigene Philosophie mit Ihrem Wertesystem zu entwickeln. Das führt in die innere Freiheit und gibt dem persönlichen Leben Sinn und Richtung. Ohne tiefere Sinngebung wird es schwierig, Verlusten und Schicksalsschlägen standzuhalten und entlang der rasanten Evolution von Komplexität zu leben.
Meine Empfehlung an andere Leaderinnen:
Vor dem Trainieren kommt das Lernen. Aber nicht, indem Sie kognitiv Wissen stapeln. Schwimmen lernen Sie auch nicht aus dem Handbuch. Die Ratio ist zu blutleer und zu schmal, um dem Erstaunlichen des Lebens eine Zukunft zu geben. Wie soll das also gehen? Indem Sie eine Entscheidung treffen! Sich nicht nur fachlich, sondern persönlich, emotional weiterzuentwickeln. Die Arbeit zu tun. Sie passiert nicht von selbst. Und Sie sind ja nicht einfach High-Performer, sondern Mensch. Dazu ist es am effizientesten, sich einen Vollprofi zu holen – wie beim Golfen. Einen, der Sie lehrt, Ihr eigenes Wesen hochzuhalten, blinde Flecken ausleuchten und neues Licht auf vermeintliche Schwächen und verzerrte Selbstbilder zu werfen. Es geht darum, Sie in Ihrer Ganzheit zum Wirken und zum Leuchten zu bringen. Allein ist das mühselig und schwierig. Wenn Sie diese „Arbeit“ nicht tun, verschwenden Sie wertvolles Potenzial. Aber wenn Sie sie tun, verringert es nicht nur „Leiden“, innere Leere, sondern macht Sie effizienter, inspirierter und beglückter. Genau so braucht Sie die Welt – und Sie sich selbst: als denkendes, fühlendes und emotional kompetentes Wesen.
So können wir Zukunft mit dem Wesentlichen schaffen.





Birgit Pestalozzi

Unternehmerin & Coach
NPO Co-Founderin „Swiss Initiative – culture projects“
Eine neue Ära
Die emotionale Intelligenz ist ein Gamechanger in diesen Zeiten. Nur, wie ändert man ein Spiel? Indem man die Stärken und Schwächen der Schlüsselspieler analysiert. In diesem Fall: unser Gehirn. Da liegt die Krux: Unser Gehirn hat die primäre Aufgabe, uns vor Gefahren zu schützen. Ohne den korrigierenden Einsatz der emotionalen Intelligenz (EI) laufen wir Gefahr, Entscheidungen aus dem „Gefahrenhirn“ heraus zu fällen. Das heisst, dort, wo Stress und Angst zu Hause sind. Die auf dieser Basis gefällten Entscheidungen lösen wiederum negative Emotionen bei allen Beteiligten aus. Es entsteht ein Abwärtssog. Die EI kann diesen Abwärtssog durchbrechen. Raus aus dem Gefahrenhirn, rein in den Ort, wo positive Emotionen wie Empathie, Kreativität und klarsichtiges Handeln zu Hause sind: unser Frontalhirn.
Wenn Leader:innen emotional intelligent agieren, setzt der Multiplikatoreffekt ein.
Und zwar wenn Führungskräfte wissen, was sich gut oder schlecht anfühlt bei sich selbst und anderen und die wissen, wie man vom Schlechten zum Guten kommt. Wenn EI als fester Bestandteil der Rekrutierung und Performancemessung integriert wird, können grosse Wellen der positiven Veränderung entstehen. So schaffen wir es, den negativen Abwärtssog in eine positive Aufwärtsspirale zu verwandeln. Alles was es zu diesem Gamechanger braucht, ist, dass wir zu 75% aus dem Frontalhirn agieren, und nicht aus dem Angsthirn. Nötig haben wir den Gamechanger sehr. Alternative Realitäten teilen die Menschen in hermetisch geschlossenen Feedbackloops. Das Resultat: Wo früher Konflikte durch Diskussionen gelöst wurden, verhärten sie sich heute, da kein gemeinsamer Nährboden mehr für Konsens besteht. Die Pandemie duscht uns täglich mit Existenzangst auf allen Ebenen. Unser „Gefahrenhirn“ läuft auf Hochtouren. Dazu kommt die Digitalisierung der sozialen Interaktionen. EI an sich ist schon anspruchsvoll, EI über Zoom & Co. dann die Königsdisziplin. Und wie wird es im Metaversum, wo physische und digitale Welten im virtuellen Raum zusammenkommen?
Dann wird Vertrauen zur alles entscheidenden Währung.
Und Vertrauen schaffen und erhalten wir, indem wir emotional intelligent agieren. Das Gute: Emotionen sind ansteckend! Positive wie negative. Mit EI verbreiten wir die guten. Also brauchen wir nur unsere Masken fallen zu lassen und unser wahres Gesicht zu zeigen. Das Gesicht der Menschlichkeit. Und was gibt es Menschlicheres als Emotionen.
Für diese neue Ära hin zu einem emotional intelligenteren Leadership braucht es Talent bei der Rekrutierung. Die Navy SEALs, die Elitekampfeinheit schlechthin, legen zum Beispiel bei der Rekrutierung mehr Wert auf die Vertrauenswürdigkeit einer Person als auf ihre Leistung. Viel Geduld ist ebenfalls gefragt. Denn Mitarbeitende dazu zu bewegen, über (negative) Emotionen zu reden, dürfte für viele beängstigendes Neuland sein.
Negative Emotionen zu äussern ist in vielen Firmenkulturen inakzeptabel. Bestehende Glaubenssätze zu hinterfragen und für sich neu zu definieren ist daher ein Muss.
Ja, man kann sein Gehirn trainieren, um mehr emotionale Intelligenz zu erreichen.
Wie schnell das geht, habe ich selbst sehr eindrücklich erfahren, als ich mich vor zwei Jahren im Konzept der positiven Intelligenz habe ausbilden lassen (ein Konzept, welches die emotionale Intelligenz beinhaltet). Zu Beginn der Ausbildung mussten wir alle einen Test zum Stand unserer positiven Intelligenz absolvieren. Der Wert von anfangs 53 Prozent war nach sechs Wochen bereits auf 81 Prozent angestiegen. Das Geheimnis dieser Veränderung liegt im täglichen Training des Gehirns. Wir durften dies mithilfe einer App durchlaufen, die uns alle drei Stunden zu einer Trainingseinheit aufgefordert hat.
Vertiefen kann man die emotionale Intelligenz erwiesenermassen übrigens auch mit dem Wundermittel für (fast) alles – der Meditation.
Meine vier Werkzeuge, die ich meinen Kund:innen und mir für den täglichen Gebrauch mit auf den Weg gebe:
Erstens, Achtsamkeitsübungen, das heisst einen „Check-in“ machen mit dem eigenen Körper, und zwar über unsere fünf Sinne. Zweitens, die „Inneres-Kind-Übung“: Sieh das Kind in deinem Gegenüber. Und dann handle so verständnisvoll mit dem inneren Kind, wie du auch mit anderen Kindern umgehen würdest. Drittens, die vier Versprechen nach Miguel Ruiz befolgen, besonders Versprechen zwei, die Dinge nicht persönlich zu nehmen, und Versprechen drei, keine Annahmen zu treffen. Viertens, die Zehn-Prozent-Regel: Wenn ich meinem Gegenüber zuhöre, fokussiere ich mich auf jene zehn Prozent des Gesagten, denen ich zustimmen kann. Und nicht auf die 90 Prozent, gegen die ich Widerstand verspüre. Meine Antwort auf das Gesagte ist dann nicht „Ja, aber“, sondern „Was mir an dieser Aussage gefällt, ist …“. Diese einfache Regel hat schon so manche Beziehung gerettet.
Meine persönliche Empfehlung für Leaderinnen:
Die emotionale Intelligenz unbedingt mit der positiven Intelligenz (PI) zu kombinieren. Während die EI Emotionen erkennt, versteht und steuert, kümmert sich die PI darum, dass negative Emotionen gar nicht erst die Überhand gewinnen.