Ein Perspektivwechsel nach dem Motto „Yes, we care“

Text: Joan Billing

Design: Pierre Augustin Rose – Armchairs·le Minotaure
Design: Pierre Augustin Rose – Armchairs - le Minotaure
Ladies Drive Magazine
Selbstoptimierung oder das bessere Ich

Erfolgreicher, beliebter, attraktiver: Die Liste der Superlative, die unser Leben vermeintlich besser machen, ist lang. Mittlerweile haben wir einen regelrechten Kult um die „Selbstoptimierung“ entwickelt, die sich inzwischen in allen Lebensbereichen ausbreitet, wo wir das „Ich“ vermessen und anschliessend „verbessern“. Es ist wahrhaft zur täglichen Herausforderung geworden, sich den vielseitigen Möglichkeiten zur „Selbstoptimierung“ zu entziehen. Im gesunden Mass kann Selbstoptimierung für die persönliche Weiterentwicklung positiv sein, doch sie kann uns auch krank machen.

Das „Zeitalter der Selbstoptimierung“

Das 21. Jahrhundert ist definitiv das „Zeitalter der Selbst­optimierung“. Die menschlichen Optimierungsbestrebungen haben durch die heutigen Möglichkeiten der Hightech und digitalen Vernetzung eine ganz neue Dimension bekommen. Noch nie zuvor bekam die Selbstoptimierung so eine grosse flächendeckende öffentliche Beachtung mit einer massgeschneiderten Präzision in Sekunden-Klicks. Währenddessen hat diese lückenlose interdisziplinäre Vernetzung auch eine gewisse Radikalisierung mit sich gebracht. Die Soziologen sprechen bereits von einer „Optimierungsgesellschaft“. Die Selbstoptimierung ist regelrecht zu einem gesellschaftlichen Megatrend geworden und reduziert sich schon lange nicht mehr nur auf Äusserlichkeiten oder Sportlerrekorde. Waren die Ziele der Selbstoptimierer ursprünglich von einem olympischen „Höher, schneller, weiter“ geprägt, folgte in den 1990er- und 2000er-Jahren ein Meer von äusserlichen Korrekturen mit diversen Möglichkeiten von Schönheitsoperationen, inklusive verheerender Nebenwirkungen und unterschätzter Risiken. Dieses Jahrzehnt wechselt die Selbstoptimierung nun komplett ihre Richtung. Dabei wurde ein Perspektivwechsel ganz nach dem Motto „Yes, we care“ eingeschlagen. Es ging plötzlich um innenorientierte Werte und Ziele wie: Healthness, Substainability, Mindfulness, Diversity, Zero Waste, Body-Positivity, Empathie, Digital Detox, Slow Life, Shinrin-yoku, Regeneration und Entschleunigung. Alte Ballaststoffe wurden losgelassen und neue Kräfte getankt, als Reaktion auf die zunehmende gesellschaftliche Globalisierung mit Beschleunigung, die unsere eine Welt immer kleiner werden lässt und uns aufzeigt, dass alles zusammenhängt.

Vom Investmentbanker zum Ökobauern

Vom Investmentbanker zum Ökobauern ist ein schönes Beispiel dieses Richtungswechsels der neuen Selbst­optimierung. Eine unglaubliche Kehrtwende! Um die Welt für nachfolgende Generationen lebenswerter zu gestalten, setzt Benedikt Bösel – CEO und Ökobauer, einst Investmentbanker – an der Basis bei der Produktion von Lebensmitteln an. Auf seinem Hof in Ostbrandenburg baut er Kartoffeln an, hält alte Hühnerrassen und Weiderinder im Herden-Modell. Er bietet auch Versuchsflächen für Agrar-Start-ups und Forschungsprojekte an. Diese neuen Werte und eine andere Haltung dienen dazu, entschlossen die Welt zu verändern. Auch die Luxusbrands sind im Wandel und haben nun ganz neue Strategien bezüglich Selbstoptimierung. Konsum wird nicht mehr über Bling Bling zelebriert. Diese Art Zurschaustellung von Luxus und Status ist passé. Neu werden wir mit nachhaltigen, umweltfreundlichen Konzepten für „das gute Gewissen“ verblüfft, konzipiert von Substainability Managern der Generation Y.

Wunsch nach Perfektion 

Doch der Wunsch nach Perfektionierung durch Selbst­optimierung liegt grundsätzlich in der menschlichen DNA und ist so alt wie die Menschheit selbst. Sich-Verbessern und Sich-Messen mit anderen hat uns all die wunderbaren Errungenschaften der Zivilisation und deren Hochkulturen gebracht. Sonst würden wir vermutlich noch heute im Fell um die Feuerstelle sitzen. Woher stammt aber dieses mittlerweile inflationäre verwendete Trendwort „Selbstoptimierung“? Das Wort „Optimieren“ geht zurück auf das lateinische „optimus“ – der Beste oder der Tüchtigste. Es skizziert die Veränderung hin zu etwas Gutem oder Besserem. Damit impliziert der Begriff eine positive Bewertung, die heute oft verloren geht. Doch worin besteht nun genau das Optimum? Wer legt das Optimum fest, wo und wie? Was steckt hinter dem Begriff „Selbstoptimierung“ wirklich? Höher, weiter, besser – beruflich und privat? Ist alles, was „mich“ besser macht, auch gut für mich? 

„Wer bin ich, und wer möchte ich sein?“

Inzwischen optimieren wir sämtliche Dimensionen des „Selbst“. Es ist zur Normalität geworden, dass wir uns in einem kontinuierlichen Prozess der andauernden Verbesserung unserer persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten befinden, ob physische, psychische, soziale oder geistige Zustände, genauso wie Arbeitsprozesse oder Kompetenzen. Kein Wunder, täglich treffen wir auf verschiedene Erwartungshaltungen, die wir erfüllen möchten, und gleichzeitig erwarten wir auch immer mehr von uns selbst. Wir arbeiten ständig daran, fehlerloser zu sein, ob im Beruf, in der Bildung, in der Familie, in der Freizeit, in Freundschaften und in der Optik. Wir akzeptieren kaum noch unsere Grenzen. Jeder optimiert sich selbst, soweit es geht. Gut zu sein reicht in der gegenwärtigen Gesellschaft schon lange nicht mehr. Das Ziel ist es, besser zu sein! Dadurch wird es zusehends schwieriger, sich den Möglichkeiten zur Selbstoptimierung zu entziehen. Sogar unser Schlaf wird durch unser Smartphone perfektioniert. Wie absurd das ist, dessen sind wir uns gar nicht mehr bewusst. „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley lässt grüssen!

Das Streben nach persönlicher Weiterentwicklung

Dennoch ist es legitim, nach persönlicher Weiterentwicklung zu streben, um dadurch zu wachsen und seine individuellen Stärken zu entfalten. Geht es nicht um das lebenslange Lernen, Weiterbilden und Wachsen? Um positive Veränderung von Gewohnheiten, um den Mut, Neues auszuprobieren und die eigene Lebensweise und Persönlichkeit zu entwickeln? Aber aus diesen Bemühungen sollte nie Druck werden und der Spass und die Freude dabei nicht verloren gehen. Denn wer sich seiner ganz eigenen Fähigkeiten und seiner Einzigartigkeit bewusst ist, muss sich nicht künstlich aufpimpen und sich nicht mit konstruierten Instagram-Profilen messen. Ihm genügt, er selbst zu sein.

Selbstoptimierung durch Stille und Shinrin-yoku (jap. Waldbaden) 

Wie wäre es mit Stille und Entschleunigung zur Selbstoptimierung? Derweil ist Stille im Leben vieler Menschen zu einem raren Gut geworden. Wir stehen häufig unter Dauerbelastung, Reizüberflutung, Multitasking, Nonstop-Aktivität im Privatleben wie auch im Beruf. Das macht ganz klar müde und erschöpft, stört das innere Gleichgewicht zwischen Konzentration und Entspannung, Herausforderungen und Regeneration. Untersuchungen zeigen, dass Stressempfindungen und deren Begleiterkrankungen von Jahr zu Jahr zunehmen. Erst wenn es richtig ruhig ist, spüren wir, wie gut das tut. Forscher haben festgestellt, dass Momente der Stille den Blutdruck senken, Stresshormone abbauen und das Wachstum neuer Nervenzellen anregen. Es werden gleichzeitig Gehirnareale frei und neue Gehirnzellen verknüpft, was uns die Zusammenhänge besser erkennen lässt und uns dabei ermöglicht, in die Selbstreflexion zu gehen. Unser Gehirn funktioniert vollends besser, vernetzter und kreativer. Stille ist also nicht nur für die physische, sondern auch für die psychische Gesundheit essenziell. Schon seit langer Zeit setzt man in Japan bei Stresserkrankungen auf Shinrin-yoku – Waldbaden. Durch den unmittelbaren Kontakt mit der Natur findet man zu sich und bekommt ein deutliches Gefühl für die grossen Zusammenhänge. Eine Art des universellen Zusammengehörigkeitsgefühls stellt sich indes ein. Diese Selbstfürsorge ist sehr hilfreich, um nachsichtiger mit sich selbst zu werden. STILLE – was für eine tolle Vision der Selbstoptimierung!

Calming Neutrals 

In diesem Sinne verändert sich auch unsere visuelle Formensprache in Design und Architektur. Plötzlich sprechen uns grosse, runde skulpturale, organisch wirkende Formen an, die pure Entspannung signalisieren und Ruhe vermitteln. Ganz calm und still. Leere und Reduktion werden zu einem zentralen Schlüssel. Wir bevorzugen am liebsten lautloses, friedliches Weiss und besonnene Cremefarben, alles, was beruhigt und zeitlos wirkt. Dies ist vielleicht ein visueller Ausdruck, wie eine positive Selbstoptimierung mit gutem Gewissen im 21. Jahrhundert sein könnte. Wir sind auf dem richtigen Weg – „Yes, we care“ – ja, wir kümmern uns.

Inzwischen ist es uns allen bewusst, dass Selbst­optimierung kippen kann, wenn wir uns nonstop mit anderen vergleichen und unrealistische Ideale verfolgen. Die dabei entstehende Anspannung kann krank machen und zu Selbst­überforderung, Depression oder Burnout führen. Wer konstant mehr von sich fordert, als er ohne zusätzliche Hilfsmittel leisten kann, entwertet gleichzeitig nicht nur permanent sein Selbstbewusstsein, sondern kann sein Selbstwertgefühl und seine verborgenen Talente verlieren. Wir haben begriffen, dass Menschen sich darin täuschen können, was für sie wirklich gut ist! Aber nur aus Fehlern und Schwächen können wir lernen und uns weiterentwickeln. Bei all den Verbesserungsoptimierungen vergessen wir manchmal, dass Spontaneität, Kreativität, Unkontrolliertheit oder Gelassenheit zentrale Glückskomponenten sind, die sich nicht optimieren lassen, aber uns optimieren. Vielleicht lieben wir deshalb zurzeit das Unperfekte und suchen nach einer neuen Diversity in unserer Gesellschaft als Gegenpool. Lasst uns aufhören, uns mit anderen zu vergleichen. Seien wir ganz wir selbst und gleichwohl glücklich und entspannt!

Veröffentlicht am Februar 11, 2025
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