Wer erfreut sich nicht an aufgehenden frischen Blumen, am ersten Grün im Frühling, und wer findet kleine Kinder nicht einfach herzig und junge Menschen attraktiv? Visuell gesehen gewinnt die Jugend immer. Und ja, wir können von jungen Menschen und Kindern sehr viel lernen. Sie sind noch unverbraucht, haben viel Energie und neue Ideen, sind unvoreingenommener, mutiger und offener. Doch wie Oscar Wilde schon gesagt hat: „Ich bin nicht jung genug, um alles zu wissen.“ So hat auch das Alter durchaus seine attraktiven Seiten und Vorteile. Doch damit meine ich nicht fragwürdige Schönheit blätternder Rosen und alter Burgruinen.
Andererseits lieben wir den Mut der Naivität, die Frische des noch nicht Dagewesenen, die Direktheit des nicht politischen und nicht strategischen Denkens und Sprechens. Neue Ideen kommen nun mal nicht von alten Säcken, und nur wer noch nicht weiss, dass es nicht geht, ist bereit, etwas auszuprobieren und damit zu innovieren. Neues wird in der Regel von jungen Menschen geschaffen. Da wir es sind, welche die Jungen erziehen und ausbilden, könnten wir uns auch fragen: Was geben wir diesen jungen Menschen mit? Was möchten wir, das sie auf dem Zenit ihres Lebens verkörpern; und ganz wichtig: Was sind wir bereit, von ihnen zu lernen und zu übernehmen, damit wir unsere Nützlichkeit nicht so schnell verlieren? Vorurteile kennen sie noch nicht. Rückschläge haben sie noch wenige erlebt, die Hoffnung ist noch unerschüttert und der Glaube an das Gute, an das Gerechte und die Möglichkeit, eine bessere Welt zu erschaffen, ist noch stark. Frustrieren wir sie nicht mit unseren enttäuschten Plänen, verletzten Gefühlen und Ängsten vor dem Vergehen! Denn ja, unsere Generation – ich spreche jetzt für die Menschen ü50 – ist am Vergehen und sollte bald auch abtreten. Falls wir älteren Menschen das nicht selbst tun, dann werden wir weggetreten, und das tut weh. Wir werden verachtet und belächelt, wenn wir unser Alter nicht liebevoll annehmen und akzeptieren mit all seinen Falten, Narben, dem generellen Welken und den abnehmenden Stärken. Nein, es geht ab einem gewissen Alter nicht mehr alles, und nein, wir sollen uns nicht mit den Jungen vergleichen und sie nachäffen und kopieren. Dafür sind wir zu schade. Das Alter hat andere Vorteile und Talente, die es zu entdecken, zu fördern und zu verehren gilt.
Einige Fähigkeiten, die mit dem Alter stärker werden, sind:
- Das Wertschätzen von Diversität und damit Toleranz für verschiedene Lebensmuster, weil wir verschiedene Wertesysteme kennengelernt haben
- Nicht mehr alles zu müssen, sondern sich auf das konzentrieren, was man will, und damit weniger manipulierbar sein, weil wir gefestigt sind und unter anderem auch über materielle Polster verfügen
- Sich weniger zu vergleichen, sondern sich getrauen, seine eigene Individualität zu leben und zu akzeptieren, weil wir auch ohne Applaus existieren können, ohne gleich unseren Selbstwert zu verlieren
- Gelassenheit und sich nicht mehr von allem ins Bockshorn jagen zu lassen, weil wir wissen, dass das Allermeiste von selbst vorbeigeht und uns, falls es uns nicht umbringt, stärkt, wie das in der Vergangenheit immer der Fall war
- Eine grössere Menschenliebe in der Erkenntnis, dass Beziehungen wichtiger sind als Resultate, denn Resultate können oft nur mit guten Beziehungen erreicht, gute Beziehungen aber nicht durch Resultate erschaffen werden
- Die Fähigkeit und Bereitschaft, um Hilfe zu bitten, weil wir nicht mehr perfekt sein und auch nicht mehr alles im Alleingang zustande bringen müssen
- Die Verfügbarkeit für andere Menschen, weil wir nicht mehr so eingespannt sind, da wir selektiv wählen, wofür wir uns nutzen lassen
- Nachsicht für Fehler und Imperfektion, weil wir keine Perfektion mehr darstellen und liefern können, falls wir das je gekonnt haben
- Dankbarkeit für das, war wir erleben dürfen, und für die vielen glücklichen Umstände und Hilfestellungen, weil wir mit dem Alter auch umsichtiger und verletzlicher werden
- Die Freude darüber, wenn wir Freundschaft und Kameradschaft erfahren, weil wir gelernt haben, dass dies nicht selbstverständlich ist und auch nicht nachwächst wie Klee im Frühling
- Weisheit, falls wir das Erlebte gut reflektiert, analysiert und verarbeitet haben
Die Liste könnte noch viel weiter gehen, sie ist nicht abschliessend. Wenn sich Türen schliessen, dann öffnen sich andere Türen. Sind wir aber weiterhin fokussiert auf die geschlossene Türe, dann sehen wir die anderen Türen nicht. Jugendwahn führt dazu, dass wir an etwas festhalten, das sich verabschiedet hat. Zu einem kleinen Teil können wir den Alterungsprozess aufhalten. Zu einem ganz kleinen Teil! Wie viel klüger wäre es, sich selbstbewusst den neuen Fähigkeiten, Zuständen und Möglichkeiten zu öffnen und das, was wegfällt, abnimmt und verschwindet, in Liebe mit der angebrachten Trauer zu verabschieden? Jedes Alter hat seine spezifischen Vorteile und Schönheiten, auch wenn sie für uns wahrscheinlich nicht mehr im Physischen und im Mentalen liegen, sondern mehr in der Seelenqualität, dem Geistigen und im Spirituellen. Alt sein heisst, das zu geben, was man noch geben kann und will, und so eine unterstützende Rolle an der Seitenlinie einzunehmen für die, die voll im Leben stehen. Gut alt sein heisst, sich am Erfolg der Kämpfenden und Gewinnenden zu freuen und sie so zu unterstützen, wie sie es brauchen. Überlassen wir es den jungen, starken, mutigen Menschen, die Zukunft und eine bessere Welt zu gestalten, und halten wir ihnen den Rücken frei dafür. Genauso, wie es die Generation vor uns idealerweise für uns getan hat. Altern wir mit Würde, Dankbarkeit und Gelassenheit. Gehen wir vorwärts, statt zurück, und seien wir ein Vorbild für die Jungen, wie sie einst mit dem Altern umgehen könnten, falls sie dies dann wollen.