Dennoch: Ein Rolls-Royce (RR) flösst Respekt ein. Zumindest der Testfahrerin. Schliesslich kommt man nicht alle Tage in den Genuss, ein Produkt aus der Manufaktur in Goodwood über die Strassen zu lenken. Man verändert auch ein wenig seine Attitude, wenn man so ein Auto anvertraut bekommt. Hab ich den Rolls-Royce Salesman, der mir den Testwagen vertrauensvoll übergab, noch leicht irritiert mit der Ansage, ich würde jetzt erst mal einkaufen fahren und den Wagen in der Tiefgarage des Supermarktes parken (nie versuchen bitte, viel zu eng, zu unumsichtige Mitparker!), wird mir schon auf den ersten Metern klar, warum Rolls-Royce-Besitzer für so eine profane Tätigkeit einen Kleinwagen ihr Eigen nennen. Wenn sie denn überhaupt selbst Milch, Eier und Brot holen gehen. Man schwebt etwas mehr über der Strasse als in anderen Luxusmarken, fühlt sich leicht erhaben und möchte auf gar keinen Fall irgendeinen Kratzer in den teuren Lack geschweige denn eine Beule ins Blech oder einen Schmiss in die Felgen fahren.
Die Vorhersehung
Rolls-Royce hat mit dem Spectre den ersten voll elektrifizierten Rolls-Royce auf die Strasse gestellt. Kein Umweg über hybride Technologien, kein Ausprobieren anderer Antriebsarten. Das kommt nicht von ungefähr. Charles Rolls hat schon vor 120 Jahren die elektrische Zukunft vorausgesagt. Schliesslich war sein Partner, der Ingenieur Frederick Henry Royce, erfolgreich im Bau und Vertrieb von Elektroanlagen. Charles Rolls sagte sogar, dass Elektroautos vollkommen geräuschlos und sauber seien, dass sie weder riechen noch vibrieren und dass sie sehr nützlich sein würden, wenn feste Ladestationen eingerichtet werden könnten. Aber damals waren sie natürlich keine wartungsfähigen Fahrzeuge, und es gab einfach nicht die Infrastruktur dafür. Das mit dem fast vibrationslosen Fahren ist bei Rolls-Royce als „Fliegender-Teppich-Effekt“ bekannt geworden. Früher hat man das mit ausgeklügelten Federungen erreicht, heute sorgt digitale Technik (die Luftfederung passt sich alle fünf Millisekunden dank Kameras vorausschauend den Strassengegebenheiten an) für ein reibungsloses Fahrgefühl. Und das wohlgemerkt nicht nur beim Spectre, alle neuen Rolls-Royce sind bekannt für diese Annehmlichkeit.
Der Verjüngungseffekt
Der Name rührt nicht etwa vom gleichnamigen James-Bond-Epos. Bereits 1910 bauten Rolls und Royce, die 1904 ihre Firma Rolls-Royce Ltd. gegründet hatten, ein Motorfahrzeug für Versuchszwecke mit der Chassis-Nummer 1601. Claude Johnson, der Rolls und Royce miteinander bekannt gemacht hatte, fungierte in der Zeit als ihr Commercial Manager und dachte sich die klingenden Namen für die einzelnen Modelle aus, Namen, die mysteriös und zukunftsweisend sein sollten. Das Auto No. 1601 taufte er The Silver Spectre (Spectre heisst Gespenst auf Deutsch). Rolls-Royce beruft sich mit der Benennung neuer Modelle immer wieder auf die Historie der 120 Jahre alten Marke, die seit 2000 zu BMW gehört. Und so lag es nahe, für den ersten vollelektrischen Rolls-Royce Spectre zu wählen als Reminiszenz an den 114 Jahre zuvor produzierten Hoffnungsträger. Haben Sie auch eher ältere Herrschaften im Kopf, die sich distinguiert in einem RR chauffieren lassen? Das Durchschnittsalter der Kunden, die sich erstmals einen Rolls-Royce kaufen, ist auf 42 Jahre gesunken. 40 Prozent der Kunden, die einen Spectre (in der Schweiz ab CHF 519’320) geordert haben, leisten sich ihren allerersten Rolls-Royce. Sicher sind eine Menge early achievers darunter, die einfach den first E-Rolls-Royce haben wollen, und auch viele, die das Auto in ihre Sammlung einreihen wollen.
Beauty on Wheels
Wenn man den Spectre täglich fährt, so wie die Autorin es ein paar Tage durfte, hat man von Minute zu Minute mehr Spass. Digitaltechnisch hat der Spectre sehr viel vom BMW i7 profitiert, macht ja auch Sinn innerhalb des Konzerns. Die äussere Form ist abgeleitet vom Rolls-Royce Phantom Coupé. Die Linie wurde abgeflacht, um noch weniger Luftwiderstand zu bieten, ohne den RR-eigenen Charakter zu torpedieren. Sogar die Kühlerfigur mit dem Spitznamen Emily scheint sich mehr zu ducken (und fährt übrigens unter die Motorhaube, sobald man das Auto schliesst, zu viele Trophäenjäger haben in der Vergangenheit der Lady die Beine gebrochen). Optisch unterstützt diesen Effekt die Zweifarbigkeit, unser Testfahrzeug war Morganite mit Gunmetal lackiert. Innen hiessen die Farben Grace White mit Ardent Red und Peony Pink akzentuiert. Der Spectre ist gewöhnungsbedürftige 5,475 Meter lang; 2,144 Meter Breite misst er mit den Aussenspiegeln. Die riesigen Türen öffnen sich nach vorn, die B-Säule fehlt. Damit man sich beim Türenschliessen nicht den Arm auskugelt, schliesst die Tür automatisch, wenn man das Bremspedal betätigt. Die Karosserie ist aus Aluminium, trotzdem bringt der Spectre stolze 2.890 Kilo auf die Waage. Mit 584 PS werden die zwei elektrisch angetriebenen Motoren (vorn 190 kW, hinten 360 kW) in Bewegung gesetzt. Der Spectre hat eine 102-kWh-Batterie, die Reichweite soll laut WLTP 530 Kilometer betragen, der Verbrauch demnach zwischen 23,6 und 22,6 kWh/100 km liegen. Man schafft es aber auch, mit entspannter vorausschauender Fahrweise das Schiff auf 19 kWh/100 km zu bringen. Dass der Spectre von 0 auf 100 Stundenkilometer in 4,5 Sekunden ist, ist nice to know, aber man muss es niemandem beweisen.
Fazit: Der Spectre ist wie vom Konzern gewollt in allererster Linie ein Rolls-Royce mit allen liebevollen Details, in Handarbeit zusammengeschraubt, individualisierbar und mit dem grösstmöglichen Luxus ausgestattet und erst in zweiter ein E-Auto. Er fährt sich butterweich, und es tut wirklich weh, ihn wieder abgeben zu müssen. Wer ihn sich leisten kann: Go for it! Besitzer eines neuen RR ab Baujahr 2003 gehören automatisch zum Netzwerk Whispers. Ein Conciergeservice, mit dem man Talyor Swift-Tickets für ausverkaufte Konzerte bekommt und jedes Hotel auf der Welt buchen kann, eine externe Firma macht das für RR, und nur für RR. Die Mitglieder, inzwischen rund 20.000 Kunden, kommunizieren untereinander, was eventuell das exklusivste Netzwerken der Welt ermöglicht. Ob sie so viel Spass haben wie wir im Ladies Drive-Network? Das wissen nur die, die in beiden verkehren. Tell us!
Modell: Rolls-Royce Spectre
Leistung: 584 PS
Reichweite (Herstellerangabe): bis zu 530 km
Preis: ab CHF 519’320.00
Das Testauto wurde uns von der Garage schmohl.ch in Zürich-Glattbrug bereitgestellt.