Uniformen zeigen uns auf den ersten Blick, zu wem oder was jemand gehört. Skilehrer, Ärzte und Offiziere outen sich damit und helfen uns, sie schnell zu erkennen und einzuordnen. Dagegen ist nichts einzuwen-den. Übler sind die freiwilligen Uniformen, die wir uns sozusagen selber antun. Auch sie zeigen natürlich, wes Geistes Kind wir sind, zu welcher Einkommensklasse wir gehören oder welche Werte wir vertreten. Schlimm ist das auch nicht, doch es frisst halt etwas an unserer Individualität, unserer Einzigartigkeit; doch wenn wir die ohne-hin nicht so hoch werten, weil wir uns selbst auch gar nicht so mögen, dann erlaubt es uns wenigstens, zu einer für uns attraktiven Gruppe dazuzugehören. Nein, so schlecht ist das nicht.
Eigenständiges Denken oder Gedankenuniformen?
Ganz übel sind hingegen unsere geistigen Uniformen! Gedankenmuster und Werte-systeme, welche wir uns völlig unbewusst und unreflektiert übergezogen haben. Ge-dankengänge und Überzeugungen anderer Menschen, die wir gehört, aufge-schnappt, verinnerlicht und so zu unseren eigenen gemacht haben, ohne uns zu ver-gegenwärtigen, was die Auswirkungen dieses Denkens sind. Wir reproduzieren so populistische und sogenannte logische oder lustige Sprüche, ohne dass es unsere eigenen wären. Übel deshalb, weil wir so nicht unsere eigenen Werte und Überzeu-gungen ausarbeiten. Übel auch, weil wir unserer eigenen Kreativität Abbruch tun und übel deshalb, weil wir damit fremden Stimmen Auftrieb und Kraft geben, ohne unser eigenes, differenziertes Denken und unser empathisches Fühlen aktivieren. Übel auch, weil diese unsichtbaren Uniformen von anderen nicht auf den ersten Blick ge-sehen werden, und übel auch, weil wir – stecken wir in diesen mentalen Uniformen – in den seltensten Fällen Verantwortung übernehmen für das, was wir äussern.
Wer bin ich: Mensch oder ein Spiegelbild?
Tragen wir Uniform, dann geben wir einen Teil unserer Identität und Werthaltungen auf und übernehmen diesen Teil von der Gruppe, zu der wir gehören. Wir werden dann nicht als die wahrgenommen, die wir sind, sondern als Vertreterin eines Sys-tems, einer Firma, eines Berufs oder einer Interessengruppe. Wir unterordnen dann unsere eigene Denke derjenigen der Interessengruppe. Ich bin dann nicht mehr in erster Linie Christina, sondern ich bin dann Medizinerin, Polizistin oder Receptionis-tin. Es geht dann nicht mehr so sehr um mich, sondern um das System, das ich ver-trete. Mental passiert das genau Gleiche, ist aber so nicht erkennbar. Ich weiss also nicht, ob ich mit Lisetta spreche oder mit der SVP-Frau. Ich weiss auch nicht, ob das Gedankengut zu Chantal gehört oder zur letzten Werbekampagne der Pharmalobby. Das macht es schwierig, Vertrauen aufzubauen, weil Vertrauen letztlich nur dann entsteht, wenn ich mich zu erkennen gebe mit all meinen Vor- und Nachteilen, auch mit meinen mehr oder minder idealistischen oder schrägen Glaubenssätzen und Vor-lieben. So können meine Mitmenschen entscheiden, ob sie etwas mit mir zu tun ha-ben wollen oder lieber nicht. So können Sie entscheiden, ob Sie diese Kolumne zu Ende lesen wollen oder nicht.
Wie wachsen wir: durch Entstehen oder Erziehung?
Natürlich sind wir ein Produkt unserer Umwelt. Die Menschen, die wir im Laufe unse-res Lebens kennen und schätzen lernen, färben auf uns ab. Sie ermöglichen uns, im Gespräch und der Auseinandersetzung mit ihren Glaubenssystemen und Haltungen unsere eigenen Werte und Denkmuster zu entwickeln und zu festigen. Unsere Erleb-nisse – gute und schlechte – schärfen unser Unterscheidungsvermögen und das Be-fassen mit den unterschiedlichsten Themen lässt uns unser Denken, Fühlen, Wahr-nehmen und Einordnen bewusst gestalten. Wir können dann als souveräne Men-schinnen frei wählen, mit wem und was wir uns verbinden und was und wen wir aus-sen vor lassen. Einerseits schränkt das unsere Offenheit und Toleranz ein, ander-seits formt es unsere Prinzipien, gibt uns so Profil und Charakter und erlaubt uns, uns abzugrenzen von der amorphen Masse. Eine gute Balance von Offenheit und Profil, gepaart mit lebenslangem Lernen dient der fortwährenden Entwicklung, die über Erfahrung zu tiefer Weisheit führt.
Philosophen oder Papageien? – Wenn schon, dann aber richtig!
Nicht so, wenn wir gedankenlos nachplappern, was andere ausgedacht und erlebt haben, oder wenn wir uns Gedankenmustern und Ideologien anschliessen, die wir nie reflektiert oder hinterfragt haben. Auch mentale Uniformen führen dazu, dass wir uns schneller erkennen lassen. Je ausgeprägter ein Wertesystem ist, desto greifba-rer wird es und desto berechenbarer und verlässlicher werden wir selber. Genau das jedoch ist nicht der Fall, wenn es nicht unser eigenes ist, denn das kann gar nicht lückenlos stimmig sein, weil es nicht gewachsen, sondern übergestülpt wurde. Ge-nau wie eine Maske einem Gesicht nur ähnelt, dieses aber nicht wiedergibt. Schlimm daran ist, dass uns gar nicht bewusst ist, was unser Denken ist und was es nicht ist. Dies führt zu einer gewissen Brüchigkeit und Schwachstellen. Es kann ja auch ein Atomlobbyist nicht zugleich ein Greenpeace T-Shirt tragen, oder der Metzger für Ve-ganertum werben. Mental geht das natürlich problemlos. Wir haben durchaus unsere eigenen Gedanken, aber gleichzeitig sind wir auch indoktriniert von Werbung, von Medien, von Vorbildern und Autoritätspersonen. Dies führt dann zu einer intellektuel-len Kabbelsee im Sinne von manchmal grün, manchmal rechts, manchmal wirtschaft-lich, manchmal sozial, manchmal dagegen oder dafür, was halt so opportunistisch gerade passt oder was gerade „the flavour of the day“ ist. Sind wir damit wirklich ver-antwortliche, souveräne und verlässliche Menschen?
Was im Takt anfängt, kann bald zu Gleichschritt werden …
Ideologien, gute wie gefährliche – wobei der Grat da manchmal sehr schmal ist – leben davon, Menschen solche geistig-mentalen Uniformen anzubieten. Ob Sie sie anziehen oder sie nur begutachten, ist Ihr Entscheid. Was auf den ersten Blick noch attraktiv aussieht, kann plötzlich oder über Zeit eine Uniform werden, die fast nicht mehr ausgezogen werden kann, die klebt, die mit unserem Denken und Fühlen fusi-oniert hat, die mit der Haut fest verwachsen ist. Möglicherweise stehen wir dann plötzlich mitten in einer Gruppe, zu der wir nie gehören wollten, ohne dass wir ge-merkt hätten – weil auch nicht sorgfältig geprüft – wie wir da hineingeraten sind. Grosse Bewegungen arbeiten gezielt mit süffigen Slogans und eingängigen Parolen, die einfach, logisch und überzeugend klingen. So werden sie stark, und bis wir mer-ken, was gespielt wird, kann es zu spät sein. Wir stecken unwiderruflich in der (no-tabene selbst gewählten, weil von niemandem aufgezwungenen) Uniform und wer-den so auch vom Umfeld wahrgenommen. Es ist dann auch zu gefährlich auszustei-gen, denn alle um uns herum tragen die gleiche mentale Uniform – teilweise bereits auch schon mit äusseren Erkennungszeichen.
Ein Credo für bewusste Verantwortung oder: Wer führt kann nicht kopieren!
Wer führt, der braucht eine Ausrichtung. Wer Verantwortung für Andere übernimmt, muss sich bewusst sein, dass sie/er selber Verantwortung trägt, dass sie/er für sich selber inklusive ihrer Gedanken, Gefühle, Worte, Taten und Gewohnheiten voll in der Verantwortung steht. Heisst, dass nichts, aber auch gar nichts weitergegeben wer-den soll, das nicht sorgfältig in den eigenen Hirnwindungen hin und hergeschoben und von allen Seiten betrachtet wurde, bevor es in das eigene Denk- und Wertesys-tem eingebettet wird. Heisst, dass nichts propagiert wird, das nicht im eigenen Her-zen gewogen und für gut befunden wurde. Heisst, dass nicht nur eine Quelle, son-dern viele und möglichst diverse Meinungen gesucht, angehört und überdacht wer-den, bevor die eigene Meinung bewusst und differenziert geformt wird. Nur so können wir echt Verantwortung übernehmen für das, was wir in Worten und Taten gegen aussen tragen. Wer gestaltend tätig sein will, kommt also nicht umhin, seine eigenen Gedanken und Gefühle auszubilden, stets wieder von Neuem zu prüfen und kontinu-ierlich zu schleifen und zu verfeinern. Alles Andere ist undifferenziertes und gefährli-ches Mitläufertum. Uniformen haben durchaus ihre Berechtigung. Geistige Uniformen sind prekär und für einen gebildeten, verantwortungsbewussten und souveränen Menschen wenig sinnvoll, denn sie haben schon zu oft zu grossen Schaden ange-richtet in der Geschichte und bis in die Gegenwart hinein. Arbeiten wir daran, dass die Zukunft besser wird, indem wir unser Bewusstsein sorgfältig schleifen, so wie Diamanten geschliffen werden, damit sie das Maximum an Licht reflektieren können.
*Christina Kuenzle. Sie ist Veränderungspsychologin und Executive Coach, war Unternehmerin, Personalleiterin, Leiterin einer Beratungsfirma, Mitglied der Kon-zernleitung eines grossen Schweizer Industrieunternehmens und ist heute wieder als Executive und Business Coach in ihrer eigenen Firma choice ltd. als Unternehmerin tätig www.choice-ltd.com