Sandra-Stella Triebl spricht mir in dieser Ausgabe aus dem Herzen. Ich habe immer öfter das Gefühl, von Oberflächlichkeiten – insbesondere solchen aus der digitalen Welt – überhäuft und erstickt zu werden. Ist das nur meine Wahrnehmung, oder ist dies bestimmendes Merkmal der heutigen Zeit? Laut Hartmut Rosa handelt es sich um Letzteres. Er spricht von Gegenwartsschrumpfung und meint den durch technischen Fortschritt erzeugten Steigerungszwang der Moderne. Gegenüber vorangegangenen Gesellschaftsepochen transportieren, kommunizieren, produzieren wir schneller. Allerdings beschleunigen wir in einem derart rasanten Tempo, dass wir sowohl seelisch als auch körperlich nicht mehr hinterherkommen. Unsere Zeitknappheit und Erschöpfung äussern sich in Fast Food, Speeddating, Powernap, Multitasking. In überfüllten E-Mail- und Social-Media-Accounts. In Menschen, die im ÖV, auf dem Fahrrad, zu Fuss, im Wartezimmer, auf dem Spielplatz, im Restaurant – also überall – auf ihre Smartphones starren. In einer Erregungsgesellschaft, die sich beim kleinsten Trigger in sozialen Medien gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt solidarisiert oder gegenseitig beschimpft. In einer Gesellschaft, die gefühlt immer dümmer wird, weil uns Algorithmen tagtäglich mit dem immer Gleichen zumüllen: Statt Diversität bekommen wir mehr vom Selben. Wir werden von Handelnden zu Vollziehenden. Wir sind gefangen im Beschleunigungszirkel. Ursächlich hierfür sind insbesondere Onlinetechnologien: Diese erzeugen ein Tempo und eine Grösse, die uns Menschen schlicht überfordern.
Aber müssen wir Vollziehende bleiben? Nein. Es gibt drei Wege aus der Online-Gefangenschaft: 1. absoluter Verzicht, 2. zeitweiser Verzicht, 3. partieller Verzicht. (ad 1) Einige spirituelle und religiöse Bewegungen leben extreme Formen: Sie entsagen der Onlinewelt. In Zeiten von E-Mail, E-Banking, E-Zeitung, Onlinehandel oder elektronischer Patientendosiers ein riskanter, isolierter Weg. Nur wenige finden Kraft und Freude, diesen zu beschreiten. (ad 2) Andere Gruppen setzen auf bewusste digitale Auszeiten. „Digital Detox“ bezeichnet den Onlineverzicht zu bestimmten Tageszeiten oder in Urlauben. Aber: Sie benötigen erstens sehr viel Disziplin, um dies dauerhaft in Ihr Leben zu integrieren. Meist ist es wie mit allen guten Vorsätzen: Man hält es eine gewisse Zeit durch und kehrt dann zu den Alltagsroutinen zurück. Zweitens benötigen Sie ein passendes Umfeld: Bei dringlichen Anfragen sind Sie nicht erreichbar. Für viele scheidet diese Variante damit als wenig praktikabel aus.
(ad 3) Bleibt der partielle Verzicht auf bestimmte Online-Tools und -Medien. Einige Apps, E-Mail- oder AI-Tools benötigen wir, um privat und beruflich integriert zu bleiben. Aber mal ehrlich, von diesen geht – sofern man diese bewusst einsetzt – selten grosser Stress aus. Auch die E-Mail-Flut lässt sich begrenzen, sofern man kurz antwortet und unwichtige E-Mails sofort löscht. Der grösste Stressverursacher sind soziale Medien. Darauf kann man sehr gut verzichten! Warum?
Erstens sollte Ihnen Ihre Zeit für die dort zirkulierenden Sinnlosigkeiten zu schade sein. Natürlich gibt es ab und an auch gehaltvolle Beiträge. Aber gehaltvolle Beiträge können Sie auch in Zeitungen und Zeitschriften lesen. Zudem sind diese Beiträge meist ausgewogener und verständlicher geschrieben.
Zweitens sollten Sie entspannen, statt sich unnötig aufzuregen. Die meisten Posts in sozialen Medien sind auf maximale Aufmerksamkeit und Erregung ausgelegt, damit diese einen Leserkreis finden und vom Algorithmus nach oben gespült werden. Abgesehen davon, dass die Welt nicht nur schwarz oder weiss ist, erregen uns diese Nachrichten unglaublich. Wir sind entweder dafür oder dagegen und radikalisieren uns Stück für Stück. Damit werden wir nicht nur unzufrieden, sondern auch sozial unverträglich. Wir mauern uns in Echokammern ein, die uns nur noch deswegen ertragen, weil sie ähnlich aufgeregt ticken.
Drittens werden wir oberflächlich. Wir scrollen durch den Wust, liken Dinge, die uns eigentlich gar nicht überzeugen, oder sehen uns genötigt auch ein „well done!“ hinzuzufügen, wenn sich jemand einmal wieder selbst lobt. Verwenden Sie Ihre Zeit doch besser für tiefgründigere Dinge mit Substanz!
Viertens überschätzen wir den Nutzen sozialer Medien massiv. Abgesehen von einzelnen Influencer:innen haben die meisten von uns eine sehr begrenzte Reichweite. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer an Personen, die unsere Beiträge lesen und den Kopf schütteln. Nur wenige Personen erregen sich in Kommentaren. Die meisten schämen sich fremd. Keine Posts sind auch der wirkungsvollste Schutz vor Shitstorms. Eine unbedachte Äusserung, und Sie haben maximale Aufmerksamkeit. Leider negative. Die Zeit können Sie sich also sparen und besser in nutzen- und glücksbringende Aktivitäten investieren, wie ein Buch lesen oder zum Essen, an Apéros, Vorträge, Filme oder Kulturveranstaltungen gehen. Ihre Teilnahme an diesen Anlässen müssen Sie auch nicht posten. Oder wollen Sie Aufmerksamkeit einheimsen oder Neid verursachen? Keine besonders positiv konnotierten Persönlichkeitseigenschaften. Offline-Events machen Freude und haben auch einen grösseren privaten und beruflichen Nutzen, beispielsweise durch neue Erkenntnisse oder echte Bekanntschaften.
Fünftens – wie bereits anfangs erwähnt – machen soziale Medien nicht unbedingt klüger und weiser. Wir sind Gefangene unserer Echokammern und werden beständig mit denselben Themen beschallt. Das langweilt nicht nur unendlich, sondern wir werden selbst auch langweilig.
Sechstens erzeugen wir durch unsere Teilnahme in sozialen Medien die falschen Rollenmodelle. Likes und Aufmerksamkeit bekommen Personen, die scheinbar aussergewöhnlich sind (meist sind sie das nicht, sondern präsentieren sich nur so; aber dies nur als Randbemerkung). Das Streben nach Einzigartigkeit ist gerade in den sozialen Medien gesellschaftliche Erwartung. Die Messlatte dessen, wie wir auszusehen haben, was wir leisten sollten oder wie wir leben sollten, verschiebt sich immer weiter nach oben. Das macht unglücklich. Gerade die Erwartungshaltung an Frauen ist gestiegen. Mit jedem Like und „well done“, das Sie in die Reputation scheinbar aussergewöhnlicher Rollenmodelle investieren, befördern Sie die Ökonomisierung des Unglücks. Selbstverständlich darf man Vorbilder haben. Aber diese sollten erreichbar sein und nicht auf Trugschluss beruhen. Suchen Sie sich diese doch in der realen Welt. Oder besser noch: Bewundern Sie sich selbst!
Ist ein grösserer Verzicht auf soziale Medien nur meine persönliche Wunschvorstellung? Ich glaube nein. Auch wenn Befragungen derzeit noch ein anderes Bild zeichnen, begegne ich immer häufiger Menschen, gerade jungen, die fast gar nicht mehr auf sozialen Medien aktiv sind und dies ähnlich erleben wie ich. Es zeigt, dass Gesellschaften mitunter schlauer sind, als viele meinen. Bisweilen regulieren sich diese von selbst. Gerade dann, wenn Verbote und Gesetze – wie im Fall der sozialen Medien – scheitern. Sollte der Verzicht auf soziale Medien in Zukunft weiter anwachsen, hätten wir nicht nur mehr Zeit, sondern auch weniger negativen Stress. Wir könnten also viel von dem, was verloren gegangen ist, wiedergewinnen und dem Hamsterrad entkommen. Selbstverständlich ist mein Vorschlag provokativ. Sie müssen nicht gleich komplett aussteigen. Aber manchmal ist weniger bereits mehr.