Die Schweiz gilt seit vielen Jahren als Fels in der Brandung – auch oder gerade vor allem, was den Umgang mit multiplen Krisen betrifft. Doch in immer unruhigeren Zeiten braucht es die richtigen Weichenstellungen, damit das auch so bleibt.
Disruptionen spielten in den vergangenen Jahren weltweit und auch in der Schweiz eine wichtige Rolle. Die Anzahl und Häufigkeit externer Schocks haben zugenommen. Ein Beispiel für solche Schocks ist die Corona-Pandemie, die 2020 beinahe über Nacht ganze Branchen in die Knie zwang. Besonders betroffen war damals die Reisebranche, die von einem auf den anderen Tag keine oder nur noch äusserst geringe Umsätze verzeichnete und im Nachgang bei der Erholung mit einem Fachkräftemangel zu kämpfen hatte. Die Folgen waren u. a. Straffungen in den Flugplänen, verloren gegangene Gepäckstücke und nicht erfüllte Gästeerwartungen, was die Serviceleistung in den Hotels betraf. Zeitgleich waren viele Unternehmen durch die diversen geopolitischen Krisenherde wie etwa den Ukraine-Krieg sowie die daraus resultierende Energiekrise und den Kosten- und Inflationsanstieg zusätzlich herausgefordert. Und auch die bilateralen Beziehungen zur EU und den USA, die wieder zunehmende Abkapselung Chinas vom Westen sowie die steigenden Anforderungen im Bereich Nachhaltigkeit und Governance brachten die heimische Wirtschaft in den zurückliegenden zehn Jahren unter Zugzwang. Und nicht zu vergessen: die digitale Disruption durch künstliche Intelligenz.
DAS ERFOLGSREZEPT SCHWEIZ: GUTE RAHMENBEDINGUNGEN, KONSERVATIVE KAPITALAUSSTATTUNG UND ERFOLGREICHES KRISENMANAGEMENT
Trotz all dieser Herausforderungen gelang es der Schweiz und den Schweizer Unternehmen jedoch wie kaum einem anderen Land, für relative Stabilität zu sorgen – sowohl was das wirtschaftlich moderate Wachstum als auch den Arbeitsmarkt betrifft. Auch die Inflation war hierzulande in Spitzenzeiten deutlich niedriger als in anderen europäischen Ländern. Die Gründe dafür sind eine Kombination aus mehreren Faktoren: gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie die vergleichsweise grosse Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes, die hohe Eigenkapitalausstattung der Unternehmen und ein erfolgreiches Krisenmanagement, das neben der strategischen Neuausrichtung auch die operative und finanzielle Restrukturierung umfassen kann. Gute Beispiele für eine strategische Neuausrichtung als Konsequenz auf die Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit sind dabei die Depriorisierung von China als Absatzmarkt oder die Refokussierung auf regionale Lieferketten zur Verringerung der Abhängigkeit von einzelnen Regionen oder Ländern. Im Fokus der operativen Restrukturierung stehen insbesondere die Anpassung der Kapazitäten an den Umsatz und das Heben von Effizienzsteigerungen – beispielsweise durch die Digitalisierung einzelner Prozesse, die Optimierung der Lieferantenstruktur und das Schaffen grösserer Flexibilität durch gezieltes Outsourcing. Die finanzielle Restrukturierung hingegen konzentriert sich auf die Anpassung der Finanzierungsstruktur sowie der Kreditlaufzeiten.
Aber nicht jedes Unternehmen verfügte in der Vergangenheit über die optimalen Voraussetzungen und krisenerfahrenen Manager, die es in so einer Situation zwingend benötigt. Eine Reihe von Unternehmen war schlichtweg überfordert mit der Situation und benötigte gezielte Unterstützung, beispielsweise durch externe Berater, um bestmöglich durch die Krise und aus dieser auch wieder herauszukommen. Sich schnell an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen zu können ist gerade in Krisenzeiten von enormer Wichtigkeit. Den Schweizer Unternehmen ist dies in den vergangenen Jahren vergleichsweise gut gelungen. Doch laut dem aktuellen Disruption Index von AlixPartners liegt mit Blick in die Zukunft genau darin eine weitere Herausforderung: 45 Prozent der CEOs hierzulande äussern die Sorge, ob diese Anpassungsfähigkeit hinsichtlich der steigenden Anzahl an disruptiven Umbrüchen auch weiterhin ausreichen wird.
PRIORITÄTENLISTE FÜR DIE NÄCHSTEN JAHRE BEREITS GUT GEFÜLLT
Aber jede Krise ist auch immer eine Chance, Dinge neu zu denken, sich neu aufzustellen und damit für die Zukunft resilienter zu sein. Und die Lehren aus den zurückliegenden Krisen sind für die Zukunft ein wichtiger Erfolgsfaktor. Denn die nächsten ein bis drei Jahre werden sowohl gesamtwirtschaftlich betrachtet als auch aus Sicht einzelner Branchen nicht ruhiger oder einfacher. Im Gegenteil: Mit geopolitischen Sorgen, einem europaweit immer noch vergleichsweise hohen Zinsniveau oder den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Deutschland – dem wichtigsten Exportmarkt für die Schweiz – steht nach wie vor eine Vielzahl an Herausforderungen ganz oben auf der Tagesordnung vieler Schweizer Führungskräfte. Hinzu kommen branchenspezifische Umbrüche, die neben der bereits krisengebeutelten Automobilzuliefererindustrie auch die Reisebranche betreffen. Denn nach den zwei zurückliegenden „Honeymoon-Jahren“ 2022 und 2023 aufgrund des pandemiebedingten Reise-Nachholeffekts erlebt die Branche nun eine Normalisierung der Umsatzzahlen. Und auch das Buchungsverhalten der Kunden ist wieder kurzfristiger geworden, was die Kapazitätsplanung für Anbieter zunehmend schwierig gestaltet. Ausserdem ist die Branche in diesem Jahr von massiven Gegenreaktionen auf den Overtourism überrascht worden. Und wer dachte, dass das ein kurzfristiges Phänomen ist, hat sich aus heutiger Sicht getäuscht. Auch jetzt im Herbst, nach dem Ende der Hauptsaison, finden nach wie vor Protestaktionen statt, beispielsweise auf Teneriffa. Das Ignorieren der vielfältigen negativen Effekte von Tourismus ist – neben den vielen positiven – keine Option mehr. Es braucht ein gezieltes Zusammenspiel aller Beteiligten, um Lösungen für dieses vielschichtige Problem zu erarbeiten.
Mit dem rasanten technologischen Wandel steht die Branche vor einer weiteren, zentralen Herausforderung: KI spielt heute bereits eine Rolle in der Reisebranche – sowohl bei den Reisenden, die beispielsweise ChatGPT für Reiseinspirationen oder erste Ideen für Tourplanungen nutzen, als auch bei den Anbietern, die KI heute noch vor allem zur Effizienzsteigerung ihrer Prozesse einsetzen. Um mit den digitalen Spielern der Reisebranche Schritt halten zu können, müssen auch die traditionellen Player KI vermehrt dafür nutzen, Kunden besser zu verstehen und bedienen zu können, um Marktanteile zu halten oder zu gewinnen.
REISEBRANCHE ALS BEISPIEL FÜR DEN EINSATZ NEUER TECHNOLOGIEN
Wenn es um den Einsatz von KI bei den Reiseanbietern geht, gibt es vor allem vier Bereiche, die hervorzuheben sind: Suche und Inspiration, Kundenbetreuung, Angebots- und Risikomanagement sowie Prozesseffizienz. Bezüglich Suche und Inspiration können KI-gestützte Chatbots Reiseanfragen gezielt auswerten, diese u. a. mit früheren Buchungen vergleichen und dem Kunden so darauf abgestimmte, personalisierte Reise- und Routenempfehlungen geben oder auch Reiseerlebnisse am Zielort vorschlagen. Letzteres ist auch deshalb wichtig, weil die Aktivitäten vor Ort eine besondere Rolle bei der Reise-Gesamtzufriedenheit spielen. Die Kundenbetreuung profitiert in Sachen KI von der 24/7-Verfügbarkeit von Chatbots, mithilfe derer etwa Standardfragen und -probleme effizient gelöst werden können. Durch die Analyse externer und interner Datenquellen können Reiseunternehmen wiederum die Nachfragemuster ihrer Kunden frühzeitig erkennen, potenzielle Reiseunterbrechungen bewerten und so ihr Angebot und insbesondere ihre Preise proaktiv und zu jedem Zeitpunkt anpassen sowie ihre Risiken managen. Auch Airlines greifen u. a. auf KI-gestützte Auswertungen zurück, um so die Nachfrage nach Getränken und Lebensmitteln auf verschiedenen Flugstrecken vorherzusagen und darauf basierend den Bestand sowie das beförderte Gewicht zu optimieren. Ein Beispiel, wie Reiseanbieter KI zudem zur Steigerung der Prozesseffizienz, beispielsweise im Marketing, einsetzen, sind gebündelte Übersichten zu Hotelreviews oder das Erstellen gezielter Marketing-Mailings.
Die erfolgreiche Entwicklung und Implementierung von KI-Anwendungen ist dabei für viele Unternehmen heute noch eine Herausforderung. Zwar wird viel in die Umsetzung verschiedener Ideen investiert, die gewünschten Erfolge und Ergebnisse bleiben bislang jedoch teilweise aus. Um dies zu verhindern, ist es für Unternehmen wichtig, folgende Aspekte sowohl im Vorfeld als auch während der Implementierung zu beachten und sicherzustellen: Entwicklung und Priorisierung von wirtschaftlich interessanten Anwendungsfällen, Schaffung der Daten- sowie organisatorischen Voraussetzungen, Identifikation und Entwicklung der notwendigen Kompetenzen innerhalb der Organisation sowie die Bewertung und das Management von Risiken, die im Rahmen von KI-Anwendungen entstehen können.
MUT ZUR VERÄNDERUNG
Die Reisebranche agiert bei all dem nur als ein Beispiel von vielen. Nicht nur dafür, wie disruptive Faktoren – von künstlicher Intelligenz bis hin zu internationalen Spannungen – die Schweizer Wirtschaft, ihre Unternehmen und Führungskräfte über die nächsten Jahre weiterhin beschäftigen werden. Sondern auch dafür, dass Unternehmen sich kontinuierlich anpassen und transformieren müssen, wenn sie mit den zukünftigen Krisen und einem stetig steigenden Wettbewerb Schritt halten wollen.
DISRUPTION ALS NEUER WIRTSCHAFTSFAKTOR
Handlungsempfehlungen für Unternehmen
Proaktiv auf Veränderungen reagieren
Disruption gehört zur neuen Unternehmensrealität. Es kommt darauf an, diese Veränderungen frühzeitig zu erkennen und darauf proaktiv zu reagieren.
Strategische Neupositionierung
Gerade in Umbruchphasen ist es wichtig, kritisch zu hinterfragen, ob bestehende Strategien weiterhin richtig sind. Erfolgreiche Unternehmen sind jene, die bereit sind, sich weiterzuentwickeln oder auch neu zu erfinden.
Digitale Transformation zum Vorteil machen
Ob KI, Datenanalyse, Cybersicherheit oder Cloud-Technologie – der digitale Fortschritt stellt traditionelle Geschäftsmodelle infrage, bietet aber auch enorme Chancen, selbst Teil des disruptiven Wandels zu werden.
Unternehmen, die ihre Geschäftsmodelle kontinuierlich an neue Technologien anpassen und diese integrieren, können effizienter agieren und gleichzeitig massgeschneiderte Dienstleistungen anbieten.
Förderung von Kultur und Mitarbeitenden
Die Weiterentwicklung von Talenten spielt eine zentrale Rolle, auch inmitten von (digitalen) Umbrüchen. Unternehmen müssen in der Lage sein, die Toptalente für sich zu gewinnen, sie weiterzuentwickeln und langfristig zu halten. Eine Unternehmenskultur, die Agilität, Innovation und Leistung fördert, ist dabei entscheidend für nachhaltigen Erfolg.
Synergien zwischen Effizienz und Wachstum nutzen
In einem disruptiven Umfeld sind Effizienz und Expansion keine Gegensätze. Das Ziel muss es sein, zentrale Erfolgsfaktoren und Wettbewerbsvorteile zu schützen und auszubauen. Mit diesem Konzept können Unternehmen nicht nur nachhaltig wachsen, sondern auch eine Verbesserung ihrer Gewinnspanne erreichen.
Beatrix Morath
Partner & Managing Director, DACH Countries Co-Leader und Global Co-Leader Restaurants, Hospitality, Travel & Leisure bei der globalen Beratung AlixPartners.
Beatrix Morath ist Partner & Managing Director bei der globalen Beratung AlixPartners. 2014 wurde die gelernte Bankkauffrau und Betriebswirtin zu AlixPartners geholt, um für diese den Schweizer Standort und Markt aufzubauen. Dort spielt sie seither eine Schlüsselrolle im Schweizer Erfolgskurs des Beratungshauses. Zehn Jahre nach der Gründung ist es Beatrix Morath und ihrem mittlerweile 40-köpfigen Senior-Expertenteam gelungen, AlixPartners zu einer der Top-Adressen im Schweizer Beratungsmarkt bei Restrukturierungs- und Transformationsprojekten aufzubauen – mit regelmässigen Spitzenplatzierungen bei anerkannten Beraterrankings. So wurde AlixPartners 2022 im „Management Consulting Ranking“ des Forschungsinstituts Wissenschaftliche Gesellschaft für Management & Beratung (WGMB) mit dem ersten Platz in den Kategorien Implementierungsfähigkeit und Restrukturierung ausgezeichnet. Eine Stärke, die Beatrix Morath mit ihrem Team bei einer Vielzahl an Projekten – u. a. entstanden aus den herausfordernden Rahmenbedingungen der vergangenen zehn Jahre – kontinuierlich unter Beweis stellen konnte. AlixPartners unterstützte dabei sowohl Schweizer Top-100-Unternehmen als auch mittelgrosse Unternehmen im Rahmen von Restrukturierung, Transformation, Reorganisation sowie bei Carve-outs, Post-Merger- Integrationen, Investigationen und der Wahrnehmung von Interimmanagement-Rollen.
Neben ihrer Rolle als Schweiz-Chefin und Co-Leaderin für die DACH-Region ist Beatrix Morath zudem Global Co-Leader für den Bereich Restaurants, Hospitality, Travel & Leisure bei AlixPartners sowie als Beirat des Department of Economics der Universität Zürich und als Board Member der Non-Profit-Organisation Global Dignity tätig.
AlixPartners veröffentlicht jährlich mehrere Studien, darunter den Disruption Index, auffindbar unter disruption.alixpartners.com