Gleissende Sonne, glitzernde Sandkörner, stahlblauer Himmel – okay, und ein paar Kamele, die vor sich hinkauen und die Zähne knirschen lassen.
Vor allem in der Abenddämmerung verwandelt sich die Kulisse von einem gelben Riesen in eine rötliche Marslandschaft, wo man im Schein des aufgehenden Mondes noch immer die eine oder andere Fata Morgana wähnt.
Also tauche ich ein.
In diese mir so fremde Welt der Wüste.
Und in mich.
Etwas, das mein hektischer Alltag mir allzu leicht verwehrt.
Und ich tauche in die Stille.
Was die Stille einem gibt?
Gelassenheit. Ruhe. Versöhnlichkeit mit dem Leben und dem Leiden, dem wir in der Dualität unseres Körpers auf dieser Erde ausgesetzt sind.
Ich weiss, ich weiss. Wir leben in einem dualen System mit gutem Grund: Es erlaubt uns, Dinge zu benennen und sie zu erkennen. Wir brauchen zudem stets drei Dinge. Uns selbst. Einen Beobachter. Und einen Raum. Sonst haben wir keine Möglichkeit, uns selbst überhaupt wahrzunehmen, zu sehen und zu spüren. Und in uns allen, in jedem Raum, existieren zwei weitere Pole. Licht. Schatten.
Es gibt eine ganz wunderbare, schöne Geschichte dazu, die Donald Walsh in einem seiner Bücher in ähnlicher Art und Weise wiedergibt und die ich gern mit dir teilen
möchte:
Eine kleine Seele kommt eines Tages zu Gott und sagt: „Ich möchte mich soooooo gern mal umschauen in dieser Welt. Also schick mich bitte rüber auf die dunkle Seite.“
Der kleinen Seele wurde erlaubt, was sie wünschte. Gott liess sie aber nicht gehen, ohne sie vorher zu warnen: „Kleine Seele. Es war dein Wunsch, die dunkle Seite zu sehen. Bitte denk in der dunkelsten Stunde immer daran, dass ich es bin, der dir auf der anderen Seite begegnen wird.“
Die kleine Seele machte sich auf zur dunklen Seite – und kam kurze Zeit später verschreckt und enttäuscht zurück. „Gott, wieso hast du mich an diesen furchtbaren Ort gehen lassen?“ Seine Antwort war diese: „Weil du es wolltest. Und weil du dich als Licht unter Lichtern nicht sehen kannst. Licht braucht Schatten, um sich zu erkennen.“
Die kleine Seele verstand.
Licht und Schatten bedingen sich also. Diese getrennte Einheit erscheint einem nirgends so deutlich wie in der Klarheit der Wüste. Wobei Worte immer so schrecklich ungenügend, oft sogar beleidigend oder gar untalentiert erscheinen, die Schönheit jeder Dualität in ein paar Vokale und Konsonanten zu pressen. Denn sobald man etwas ausspricht, erscheint es oft so banal. Es scheint gefangen – in Worten. Unfrei. Nicht in vollem Glanze erfasst und beschrieben.
Wie beschreibe ich dir denn am besten die Schönheit der Wüste? Den Duft der Stille?
Die geheimnisvolle Weite, die deine Seele umarmt und sie gleichzeitig erlöst, befreit.
Wie der warme Wüstenwind sich auf meiner Haut anfühlt in jener Sekunde, in der er meine Schweissperlen auf der nassen Stirn berührt und sie trocknet. Es ist, wie wenn jemand dir deine bitteren Tränen auf der Wange wegküsst – mit der weichen Wärme seiner Lippen und der ganzen Güte seines liebenden Herzens. Die Freiheit, die man spürt, wenn man die täglich wandernden Dünen bestaunt. Eine Freiheit, so zeit-, klassen- und dimensionslos, dass sie einem fast den Atem verschlägt, weil man kaum glauben kann, was diese Natur mit einem anstellt. Am Ende sind es doch nur Sandkörner!
Die Wüste erzählt einem, ach, so manche Geschichte von Licht und Schatten. Jedes Sandkorn wirft einen Schatten auf ein anderes, und je nach Stand der Sonne wandert er im Kreis. Das heisst aber auch, dass jedes dieser kleinen, winzigen, unscheinbaren Sandkörner mal im Licht – und dann wieder in der Welt der Schatten ist.
Wie fühlt man sich klein in einer Wüste. Und doch gross, weil auf schier unheimliche Art präsent, strahlend, erhaben über den kräftezehrenden Dingen und Kleinigkeiten des Lebens, die uns sonst so vereinnahmen und konsumieren, ja, uns fast schon auffressen.
Sind diese Worte adäquat? – Ich wage es zu bezweifeln, auch wenn ich mir redlich Mühe gebe, dir die Wüste näherzubringen in der Weise, wie ich sie erlebt und gespürt habe.
Ich habe etwas Faszinierendes wieder lernen dürfen in dieser Stille: Zeit zu haben.
Und ich frage dich: Was ist eine Stunde?
Eine Sekunde?
Welchen Wert hat sie?
Viele Menschen bezeichnen Zeit als den wahren Luxus. Sie investieren in Zeit. Aber Zeit lässt nicht mit sich handeln. Sie ist kein Gut, welches an die Börse kommt und mit dem sich Geld verdienen lässt.
Sie ist unbarmherzig, weil wir ihr nie wirklich und im Kern habhaft werden, und sie ist in gleichem Masse unrealistisch, weil sie nie dasselbe ist, auch wenn wir sie auf immer dieselbe Art und Weise messen. Ein Beispiel: Eine Stunde des Glücks ist doch
einfach viel, viel zu wenig. Eine Stunde voller Leid und Schmerz ist hingegen eine halbe Ewigkeit.
Lässt sich Zeit also wirklich je messen? Ich meine: objektiv?
Auf einer Uhr wohl schon. Wenn wir nur die Zahlen betrachten und alles andere ausblenden. Die Zahlen allein und nur für sich stehend sind aber absolut inhaltslos und frei von Bedeutung. Wie wie wir Zeit erleben, bleibt wohl jedem sein eigenes Geheimnis.
In der Wüste denke ich mir also: Ist Zeit nicht vielmehr eine Illusion? Etwas, das erfunden wurde, uns zu knechten? Und wir – haben es zugelassen, dass wir nunmehr alle nur noch ärmliche, hilflose Untertanen der Zeit sind. Denn die Zeit tickt und tickt vor sich hin, lässt sich nie aufhalten, sondern schreitet hinfort ohne Kompromisse, ohne zurückzublicken, ohne Interesse, was sie hinter sich lässt oder jemals vor sich haben wird.
In der Wüste ist Zeit wahrlich ein seltsames Ding.
Je länger ich aber so darüber nachdenke, sehe ich die Schönheit, die in uns allen innewohnt. Unabhängig von so etwas Abstraktem wie der Zeit. Denn die Schönheit, die wir in uns tragen, ist zeitlos, sie strahlt am ersten Tag unserer Geburt und verglüht erst an dem Tag, an dem wir diesen Körper wieder verlassen. Sie leuchtet nicht immer gleich – mal ist sie klar und hell, mal nur ein kleines, orange-gelbes Lodern in der Dunkelheit. Wie ein kleines Streichholz. Die letzte Glut im Feuer, die dennoch die Kraft in sich trägt, einen tobenden Flächenbrand auszulösen.
In einer dieser Wüstennächte blicke ich hoch zu den Sternen. Es ist schön.
Geduldig zu sein mit sich selbst. Zuzulassen, dass alles dauert – oder wie man es auch ausdrücken könnte: Zeit braucht.
Ich sehe mich in Gedanken wieder an meinem Schreibtisch. Wie ich die E-Mails, die manchmal im Sekundentakt eintrudeln, versuche zu beherrschen. Ich höre mein Telefon klingeln. Das Surren einer SMS-Nachricht. Und ich spüre, wie mich all dies einnimmt und einsaugt, verschlingt und wieder ausspuckt. Mein Herzschlag erhöht sich unweigerlich, und ich fühle meinen Puls am rechten Handgelenk. „Gibt’s doch gar nicht!“, sage ich mir selbst. Oh doch. Gibt es wohl. Ich bin mit 44 Jahren, kinderlos, mit den Unternehmen, die ich in den letzten 15 Jahren aufgebaut habe, durchaus erfolgreich geworden. Ich habe ein gutes Leben, das sich manch einer wünschen würde, an meiner Stelle zu geniessen. Und doch bin ich getrieben. Von Dingen, die man zu tun hat. Weil es ja nicht anders geht! Weil man es eben so macht im Business! Weil das erledigt werden muss. Am besten hier und heute, jetzt und sofort – oder noch besser: gestern schon.
Etwas abgehakt? – Pah! Keine Zeit innezuhalten, sondern gleich rüber zum nächsten Problem, zur übernächsten Aufgabe, zum überübernächsten Projekt. Und so hechelt das Leben vor sich hin. Die Wochen eilen im Schnellzugtempo. Es ist Sommer. Ooops. Es war Sommer. Ja, ist denn schon wieder Weihnachten? – Und wieder von vorn.
Es mag daran liegen, wie schnell unser Leben heute ist. Aber bevor es sich gut anfühlt, sich als Opfer seiner Umstände zu sehen, möchte ich betonen, dass ein jeder von uns selbstverantwortlich zulässt, ob das Leben ihn vor sich hertreibt. Möchte ich also zulassen, dass mein Business bestimmt, wie schnell ich zu leben habe? – „Du musst den Prozess zu lieben lernen“, höre ich eine gute Seele sagen. „Sehe es als Spiel.“ Wohl wahr. Das Leben ist ein Spiel. Wir bewegen uns auf einer Klaviatur, die sämtliche Noten spielen kann, sämtliche Tonleitern auswendig kennt, die traurig in Moll oder vergnügt Dur erklingt – je nachdem, welchen Ton ich anspiele.
So betrachtet ist jeder von uns ein Konzertpianist auf der Stufe eines Lang Lang. Wenn man sich zutraut, die Melodie des Lebens selbst zu komponieren und zu spielen. Klingt fast etwas pathetisch. Ist aber wohl so, auch wenn ich jetzt klinge wie in der Sendung mit der Maus …
So sendet mir die Wüste jede Menge Botschaften. Unaussprechliche. Flüchtige.
Wenn die Wüste schläft, lege auch ich mich zur Ruhe. Wenn sie erwacht, tue ich es ihr gleich. Ich bewege mich in meinen Gedanken, wie die Sandkörner. Beharrlich. Im stetigen Drang, sich zu verändern. Ich atme die Wüste. Und ich lasse sie wieder gehen.
Ich kreiere Worte, schreibe sie nieder.
Wozu?
Weil ich dich so mit auf meine Reise nehmen konnte.
Ich wusste, dass du bei mir sein wirst, bevor es geschah.
Fotografiert in der Wüste vor Abu Dhabi und um die Qasr al Sarab.