Ulrike Guérot: Survival of the Flexible

Text: Ulrike Guérot
Illustration: Natasha Papst

Ladies Drive No. 72. Ulrike Guérot: Survival of the Flexible. Illustration: Natasha Papst
Ladies Drive No. 72 (Winter 2025/2026) Cover

Es ist meine erste Kolumne für Ladies Drive – und schon habe ich das Gefühl, damit anzuecken, weil ich das Thema „Flexibilität“ gegen den Strich bürsten möchte.

„Survival of the Flexible“. Wer beweglich bleibt, überlebt, lautet das Thema, das uns für diese Kolumne gegeben wurde und das wir „gerne persönlich, reflektiert, inspirierend oder auch mit konkreten Beispielen aus (unserem) Berufs- oder Lebensalltag entwickeln sollen“. Diese Orientierung für die Kolumne wurde flankiert von ein paar Business-Ratgebern und Coaching-Literatur, wie man transition shifts in Teams erfolgreich hinbekommt. Um ehrlich zu sein: Ich kann es nicht mehr hören!

Ich sitze gerade auf dem Flughafen Heathrow in London, wo ich ganze vier Tage auf dem sogenannten Battle of Ideas Festival war, das seit rund 20 Jahren organisiert wird. Es ist ein „populis­tisches“ Festival, also für „Normalbürger“, das dem konservativ-, rechtslibertären Spektrum zugeschrieben wird. So be it! Ich urteile nicht und will die politische Ausrichtung dieses Festivals hier auch nicht bewerten. Ich bin nämlich grundsätzlich neugierig auf andere Menschen, höre gerne zu und bilde mir meine eigene Meinung.

Auf diesem Festival, wo dutzendweise sympathische Menschen – alt und jung, farbig oder weiss – durcheinanderliefen und engagiert über Themen wie Bürgerkrieg, Digitalisierung und Bildung, Kulturkampf, Transphobie, China als Gefahr oder Gaza-Proteste diskutierten, als gäbe es kein Morgen, ging es nur um eines nicht: Flexibilität! Im Gegenteil: Es ging eher darum, sich gegen alles Mögliche zu wehren – vor allem gegen die menschlichen Zumutungen der Postmoderne. Gegen die Abschaffung des Bargelds oder das Hijacking von Schulen oder Universitäten durch ideologisierte Diskurse („queer“), gegen die herrschende Doxa oder Matrix der Leitmedien, das Versagen von Gerichten und generell gegen die Begrenzung der freien Rede oder die aktuelle Verballhornung der Vernunft („her penis“), die schon fast etwas Beleidigendes hat. To be honest: Ich fand das irgendwie sympathisch!

Ein Hauch von People’s Revolt gegen „die Elite“ lag im ansonsten feinen London in der Luft; der Veranstaltungsort lag direkt gegenüber von Westminster. Ganz so, als würden die Normalbürger den parlamentarischen Eliten auf der anderen Seite der Strasse zurufen wollen: Winter is coming – wie Ned Stark in Game of Thrones.

Wir glauben euch nicht. Wir passen uns nicht an. Wir sind nicht mehr flexibel. Diesmal nicht. Oder nicht mehr. Irgendwie so eine Stimmung strömte aus den Sälen, bis hinüber zum anschliessenden Post-Konferenz-Bier im Pub. Überall erregte Bürger, die nicht flexibel reagieren wollen auf die menschlichen Zumutungen des Transhumanismus, den Unsinn von ChatGPT, auf immer enger werdende Sprachkorridore oder Bewegungskontrolle mit Barcodes – sondern die sich wehren und irgendwie auf den Boden des menschlichen Daseins zurückfinden wollten, anstatt jeden eklatanten Unsinn immer noch als Fortschritt zu deklarieren.

Zum glücklichen Leben bzw. zum Überleben braucht man – damals wie heute – am meisten Liebe, gute Freunde, etwas zu essen, eine Bank im Garten oder in der Sonne, ein gutes Buch, Stille und manchmal Musik. Die nächste Flexibilitätsschleife lassen wir darum mal aus.

Wer von Flexibilität spricht, muss daher definieren: Flexibilität wozu? Dient sie dem Menschen oder dem Geld? Dem Chef oder dem Team? Der Gemeinschaft oder der Firma? Allen oder wenigen? Der „Sicherheit“, einer Ideologie oder gar der Legitimierung von institutionalisiertem Wahnsinn?

Es kann sinnvolle Flexibilität geben: Arbeitsstunden, Homeoffice, Outphasing ins Rentenalter, flexible Büros jenseits des eigenen Schreibtischs. Aber wenn Erwachsene über die Differenz zwischen biologischem und akademischem Alter bei der Einstellung von Professoren diskutieren; wenn Sprache flexibel wird, das Gendersternchen der einzige Punkt ist, der auf dem Flyer korrigiert wird, weil es schon lange nicht mehr um die Sache geht; wenn the Survival of the Flexible vor allem das flexible Ausschalten des Gehirns heisst – zum Beispiel die Umstellung ganzer Teams auf „Kriegstüchtigkeit“; wenn aus Kundenorientierung Kundenkontrolle wird und aus Teamgeist Konformitätsdruck; wenn die Flexiblen, denen Prinzipien egal sind, auch schon mal gerne demokratische Grundfeste abräumen, dann wäre Sich-Wehren schon mal angebracht.
Wenn alles flexibel ist, dann ist alles relativ; nichts mehr ist wahr und gültig oder hat Bestand. Das aber ist es, wonach sich die meisten Menschen sehnen: Bestand – nicht Überdehnung. Prinzipien und Standfestigkeit dazu.

Sie alle drei sind der Widerpart von Flexibilität. Die meisten Menschen wollen in Ruhe leben, nicht überleben. Ankommen – nicht permanent in Transition sein. Als noch Philosophie an Schulen gelehrt wurde, wusste man das noch. Das philosophische Daseinsziel nach Kant war zu ergründen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“. Kant fragte nicht danach, woran der Mensch sich flexibel anpassen soll. Er fragte nach dem Urgrund des Menschseins bzw. des menschlichen Daseins.

Zu Letzterem gehört für die meisten ein fester Ort, eine Wirkstätte. Dazu Gemeinschaft, Rhythmus, Routine, Alltag und Struktur. Gewohnheit und Verlässlichkeit. Alle psychologischen Untersuchungen zeigen, dass es das ist, was glücklich macht. Millionen Therapeutinnen und Therapeuten kämpfen damit, den Menschen das Bei-sich-Ankommen zu ermöglichen, wäh­rend Millionen Coaches dieselben Menschen in die Resilienz- und Transitionsfalle stecken.

Resilienz aber ist das Codewort, um dem „erschöpften Selbst“ (Alain Ehrenberg) klarzumachen, dass es selbst schuld ist, wenn es nicht flexibel genug ist oder die Transformation nicht schafft. Das ist ungefähr so, als würde man jemandem sagen: „Du musst dich abhärten, es wird regnen“, ihm aber gleichzeitig die Regenjacke wegnehmen – und dann alle froh sind, wenn sie ohne Regenjacke durchkommen, weil sie auf resilient getrimmt wurden.

Ich finde, es ist an der Zeit, den Trend mal wieder umzukehren: Regenjacken statt Resilienz, Ruhe statt Flexibilität, Beharrlichkeit statt Transition, Standhaftigkeit statt Flexibilität. Die neuen technologischen Oberflächen, die uns als Fortschritt präsentiert werden, als Spielzeuge entlarven – und mit Diogenes sagen: Geh mir aus der Sonne!

Alles andere ist spätkapitalistische Augenwischerei einer Tech-Oligarchie, die nicht mehr weiss, was Leben heisst. Die Welt rasen lassen – und nur dabei zuschauen, wie die nächste Flexibilitätsstufe nur wieder neue Probleme schafft und die nächste Transformation erzwingt. Die Wiederkehr des ewig Gleichen zu beobachten, scheint mir eine gute Einstellung.
Anders formuliert: Entspannt Hegel zu lesen, ist sicherlich wertvoller, als flexibel zu sein!


Creators
Natasha Papst
Mediengestalterin
Ulrike Guérot
Gastautorin

Quelle: Natasha Papst, Ulrike Guérot: „Ulrike Guérot: Survival of the Flexible“, Ladies Drive Magazin, Nr. 72 (2025/2026), S. 24-25.

Veröffentlicht online am 16 Dez., 2025
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