Die Sehnsucht nach einfacheren Zeiten, wer kennt sie nicht? Aber woher kommt sie? Und was für Auswirkungen hat sie? Die Mobiltelefone und das Internet haben jeden Aspekt unseres Lebens erfasst. Nichts kann mehr schnell genug gehen. Unsere Gesellschaft hat mittlerweile sogar einen Namen dafür kreiert: „Sofortness“. Dank der technischen Möglichkeiten der globalen Kommunikation haben wir anscheinend das Gefühl entwickelt, immer alles jederzeit sofort zu kriegen und zu wollen. Wir denken, dass wir dadurch Zeit gewinnen, aber gleichzeitig haben wir verstärkt das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben. Wir haben den Eindruck eine E-Mail sofort beantworten zu müssen, den Rückruf sofort zu tätigen. Nicht genug davon, müssen wir auch das neuste Produkt sofort kaufen und besitzen. Dies verursacht nicht nur Stress, überm.ssigen Konsum, sondern begünstigt auch das Wegwerfverhalten unserer Gesellschaft. Es stellt sich also die Frage: Wie viel „Sofortness“ wollen wir und können wir uns leisten? Denn „Sofortness“ formt bereits all unsere Lebensbereiche und es zeichnet sich schon heute ab, dass „Sofortness“ diese weiterhin fundamental verwandeln und somit die Gesellschaftsstruktur verändert wird. Die Diskussion darüber hat in Fachkreisen gerade erst begonnen und doch gibt es schon jetzt viele kleine Zeichen verschiedenster Gegenbewegungen. Deren Motto lautet: sich Zeit zu nehmen, zu lassen und den anderen mehr Zeit zu geben. Alles bewusster zu machen!
Eine Sehnsucht nach langsameren Zeiten
Wie heute waren auch die 1930er Jahre turbulent und mit einem grossen Wandel gekennzeichnet. Beginnend mit der Weltwirtschaftskrise und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit ziehen sich die schweren Zeiten wie ein roter Faden durch dieses Jahrzehnt hindurch. Auch damals entstanden gleichwohl eine Reihe technischer Neuentwicklungen. So wurde das Radio zum massentauglichen Alltagsmedium weiterentwickelt, als Pendant haben wir heute das iPad und Internet, welche massentauglich geworden sind. Vielleicht entsteht daher auch diese neu aufgeblühte Liebe, speziell zu den handgefertigten Designobjekten jener Zeit. Vielleicht löst diese unbewusste Sehnsucht nach alten, ruhigeren und bewusster gelebten Zeiten diese neue Bewegung zu „nostalgischen Fahrrädern“ und den „Tweed Run“ aus London aus. Dieses neue langsame, genussvolle Radfahren ist zum Zeitgeist und Fashion-Statement geworden. Das Fahrrad ist mehr als nur Kultobjekt! Es ist längst nicht mehr nur ein Fortbewegungsmittel, es repräsentiert einen modernen, urbanen und neuzeitlichen Lebensstil mit dem erhabenen Gefühl lautloser Freiheit, als Kontrast zu unserem kontrollierten übertechnisierten Alltag. Diese stilvolle Fahrradkultur im nostalgischen Look der 30er-Jahre stellt zweifellos die Blüte dieser Gegenbewegung zur „Sofortness“ dar.
Viel mehr als ein Ausdruck einer nostalgischen Generation
Angefangen hat alles 2009 in London, als der erste englische „Tweed Run“ ins Leben gerufen wurde und damit eine ungeahnte Renaissance auslöste. Die Sehnsucht nach beständigen Werten, nach Handarbeit, guter Herkunft, wahrer Authentizität, nach Besinnung auf eine elementare, schlichte Technik und nach einer einfacheren und überschaubareren vergangenen Zeit war der Antrieb dazu. Dazu einhergehend die massgeschneiderten zeitaufwendigen Handwerkskünste der Handmanufakturen. Sie erhalten als Gegenbewegung zur „Sofortness“ einen ungeahnten Auftrieb. Die Fahrräder der neuen Bewegung werden regelrecht massgeschneidert, gemäss den Wünschen der Kunden, wie ein passechter Massanzug. Es werden auch wieder neu die passenden stilistischen Accessoires wie Ledersatteltaschen, geflochtene Picknick-Körbe, gewachste Baumwolltaschen und Rucksäcke, lederne Wassertrinkflaschen in traditioneller Old-School-Optik der 30er-Jahre produziert. Eine spannende Anekdote ist sicherlich auch die Geschichte, wie das erste Zweirad entstand. Anscheinend begann alles 1816 mit dem ersten „Laufrad“. Infolge des verheerenden Vulkanausbruchs auf der indonesischen Insel Sumbawan kam es in Europa durch Schneefall im Sommer zu Missernte und es gab nicht genügend Futter für die Tiere. So mussten auch die Pferde notgeschlachtet werden. Damit fiel das wichtigste Verkehrsmittel des frühen 19. Jahrhunderts aus und der Verkehr brach zusammen. Karl Freiherr von Drais (Draisinen) machte aus der Not eine Tugend und brachte die Bürger von Mannheim mit seinem Laufrad zum Erstaunen. Der „Draisinenreiter“ war ein mit Leder gepolstertes Holzgestell und musste mit den Füssen abgestossen werden. Als nach zahlreichen Weiterentwicklungen sich am Ende des 19. Jahrhunderts die mit Pressluft gefüllten Reifen und Zahnräder zur Kraftübertragung durchsetzten, hielt das Fahrrad seinen Siegeszug ein. Im Gleichschritt mit der Industrialisierung wurde das Fahrrad zu einem erschwinglichen und unverzichtbaren Transportmittel für die Fabrikarbeiter in den Städten. Die richtigen Fahrradliebhaber stammten aber vorwiegend aus den gehobenen Gesellschaftsschichten. Sie gründeten die ersten „Fahrradclubs“, machten Ausflüge aufs Land und blieben unter sich. So schliesst sich der Kreis wieder mit dem „Tweed Run“ London, welcher eine Art Hommage an die aussergewöhnlichen Meisterwerke der Ingenieurskunst aus über 200 Jahren zelebriert.
„Tweed Run“ und britische Anzüge
„Tweed Run“ fand natürlich in der Innenstadt Londons statt, vielleicht weil England der Geburtsort des traditionellen massgeschneiderten Anzugs ist, der dem „Tweed Run“ auch seinen Namen gab, und die Geburtsstätte des Afternoon Tea und des Gurkensandwiches. Jedenfalls hat sich seit dem ersten „Tweed Run“ auf der Insel im Jahr 2009 die Idee wie ein Virus in alle Grossstädte der Welt verbreitet, von Paris über Tokio nach Berlin, Helsinki, Sydney, Zürich, bis Florenz. Das Bedürfnis nach „einfacheren Zeiten und Entschleunigung“ ist so gross, dass es Länder, Kulturen und Traditionen überwindet. Seitdem treffen sich alljährlich die Traditionsliebhaber in klassisch britischer Fahrrad- Kleidung der 30er-Jahre, den Knickerbocker-Anzügen aus Tweed, Cord oder Flanell, sitzend auf den zweirädrigen Oldtimern, und machen gemeinsam eine entspannte Ausfahrt mit still dahingleitender Eleganz durch das Zentrum von London. Der „Tweed Run“ steht imGeist der Zeit und zeigt so den entspannten, langsamen, neuen, puren Slow-Luxus.
Fashion goes old Cycling!
Passend zum „Tweed Run“ kleiden sich die Teilnehmer bewusst stilvoll im Old-Fashion-Look der 30er-Jahre, mit einem grauen Dreiteiler aus Flanell mit feinen Streifen und edlen Manschettenknöpfen. Die Socken dazu sind rot wie auch die Strickkrawatte aus 100 % reiner Seide. Dazu ein Luxushemd aus echter „Sea-Island-Baumwolle“ und die glänzenden, massgeschneiderten, braunen rahmengenähten Schuhe von John Lobb. Die jüngere dynamische Version des eleganten Pedaleurs trägt eine 2/3-Hose in schwerer Tweed-Qualität, dazu eine farblich abgestimmte Schirmmütze, einen Klassiker aus den 30er Jahren. Auf Englisch werden sie gerne auch „Paperboy Cap“ oder „Newsboy Cap“ genannt. „Flatcap“ ist die alternative Bezeichnung dafür. Sie entstammte dem irischen Arbeitermilieu der 30er und verbreitete sich über das Heer der Zeitungsjungen weiter. Dazu einen farblich passenden Wollcardigan mit luftigem Hemd, einer kecken Tweed-Fliege von Harding & Wilson und bleistiftdünnen Hosenträgern, welche einen edlen Lederabschluss aufweisen, genauso wie der Fallschirmwebgürtel von Hackett, verziert mit Lederabschlüssen und einem grossen „H“ als Ledergurtschlaufe. Dazu gehören natürlich die farblich abgestimmten gelochten Fahrradhandschuhe aus Wildleder/ Lederkombination. Die Hosenabschlüsse werden wieder elegant und schick in den geschnürten, dunkelbraunen, rahmengenähten, mit aufwendigen Lochmustern verzierten Lederstiefeln von Tricker’s London getragen. Oder aber in den Diamantmuster-gestrickten Burlington-Socken versenkt. Das Comeback der Taschenuhr darf natürlich auch nicht vergessen werden, am besten von Haus Cartier. Und für die Landpartie muss natürlich eine stilechte Leica mit, wie die neue Leica M9-P eine „Hermès Edition“, welche auf 300 Stück weltweit limitiert ist, eine mit Kalbsleder bezogene Kamera, nicht fehlen. Bei einem Charming Look eines 30er-Jahre-Dandys darf der passende Duft von Hermès, in einem muskatfarbenen Lederetui, natürlich mit sichtbaren Nähten, nicht fehlen. Man ist auch Mitglied in einem der neu gegründeten Gentlemen Club, welche zurzeit wie Pilze aus dem Boden schiessen. Die vielen Blogs, Webseiten, Bücher, Magazine und Shops für die neu erblühte Fahrrad- und Herrenkultur untermalen diese neu erwachte Fahrradliaison. Aber nicht nur für den Gentleman, sondern auch für die neue, kecke Lady ist dieser Trend etwas; mit einem neuen stylishen „Boyfriend Look“ und einer Stofffliege am Goldhalskettchen der Marke „Phenomenon“ oder dem „Loveletters“- Halskettchen, einem kleinen Briefumschlaganhänger von Louis Vuitton, welcher individuell graviert werden kann, ist sie mit dabei. Bis in die höchsten Modekreise ist der Trend zum Gentleman-Cycling bereits vorgedrungen. Der Londoner Designer Paul Smith bietet nun zu seiner Fashionkollektion auch nostalgische Fahrradmodelle an.
Haute Couture Pur!
Aber nicht genug, das Radfahren ist nicht nur zu einer Frage des Stils geworden, sondern schon zu einer kleinen Obsession. Da gibt es die wunderschönen Fahrradklassiker von Cooper „T200 Cooper Revival“ oder der „Cooper Bike Championship 50“. Aber inzwischen können sich Design-Liebhaber auch ihr persönliches Fahrrad individuell gestalten und in einer Massanfertigung mit hochwertigsten Materialien verschönert, personalisiert und nummeriert als Unikat erwerben. Da gibt es das hochelegante nostalgische Exemplar mit grossen hellen Ballonreifen und rabenschwarz lackierten, filigranen Stahlrahmen, drei Gängen und einem wunderschönen handgearbeiteten Ledersattel aus dem englischen Traditionshaus Brooks, das seit 1866 die Herstellung von Ledersätteln von Generation zu Generation weiterentwickelt und weitergegeben hat. Dabei sind die neu entwickelten Räder Meisterwerke in Ästhetik und Qualität, Unikate für Liebhaber. Haute Couture pur! Dann gibt es mittlerweile sogar Kurse für den Eigenbau mit fachkundiger Hilfe. Das Motto heisst: Kreieren Sie sich Ihr stylishes Design-Fahrrad einfach nach Ihren individuellen Wünschen und ernten Sie bewundernde Blicke für Ihr exklusives Fahrrad (zum Beispiel bei www.fretsche.ch). So entstehen Unikatvelos wie „Vue Des Alpes“, „Dolder“, „Landiwiese“, „Selnau Deluxe“, alles Stadtquartiere oder Plätze in Zürich. Es lohnt sich, solch einen Kurs in Zürich zu besuchen. Ein wunderbares Beispiel ist das Fahrrad „Vue Des Alpes“ mit Hilfsmotor für die älteren Gentlemen. So werden diese Unikate selbst in den Büros oder in den Wohnungslofts wie Sammler- und Kunstobjekte präsentiert. Wer kann denn da noch einem stilvollen Landausflug und einem Afternoon Tea mit Gurkensandwiches widerstehen! «
Text: Joan Billing
Fotos: Press* Joan Billing ist Trendforscherin und arbeitet unter anderem auch für die Trend-Ikone Li Edelkoort. Joan Billing entführt Sie als Gastautorin jeweils an dieser Stelle in die faszinierende Welt der Trends.