Inspirationsquelle Industrie – Chic Vergänglichkeit als Elixier

Text: Joan Billing
Fotos: Press

INSPIRATIONSQUELLE INDUSTRIE - CHIC VERGÄNGLICHKEIT ALS ELIXIER SPUREN ENGERER ZEIT / ZEITSPUREN / SIMPLE AUTHENTISCHE ÄSTHETIK / SCHLICHTE SCHÖNHEIT

Die globale Wirtschaftskrise und das damit verbundene Trauma hat uns ein Moment der Reflexion gebracht. Die kürzlich erfolgten Proteste bilden eine Gegenbewegung zur ökonomischen Dominanz der Demokratie, zur unangemessenen Vermarktung all unserer Werte, zum Ausverkauf unserer Kultur und zur Dehumanisierung unserer Gesellschaft. Als Antwort darauf betonen die Wirtschaftsleute die Wichtigkeit der Vernunft, während die Designer auf die Intuition und das Gefühl setzen.

Die „neue Designergeneration“ hat Sehnsucht nach richtigem Design, nach mentalen Materialien und Designs aus der Vergangenheit mit echten Geschichten, welche Generationen überlebt haben. So sucht die „neue Designergeneration“ klassische und altbewährte Formen. Der „neue Konsument“ sucht wiederum nach authentischen und vertrauten Materialien und Objekten aus der Vergangenheit, nach der puren Qualität und der nackten, ehrlichen und authentischen Form mit aller Konsequenz. Wir sind auf der Suche nach Designprodukten mit Seele. Es dürfen „no name“-Produkte ohne Designautorenschaften sein. Wie die noch altbekannte Glühbirne. Überall finden wir wieder diese Glühbirne mit dem Glühfaden aus Metall mit Porzellanfassung oder den porzellanen Lichtschalter Design 1920, die man bei der belgischen Firma Zangra Home wiederfindet, oder die schwarzen Industrial-Stahlblech-Lampenschirme, die in allen kleineren Fabriken hingen. Dazu gehört das Elektrostoffkabel in vielen Signalfarben. Es ist eine neue grosse Liebe zu Glühbirnen entflammt. Einige Modelle findet man auch bei „Manufaktum“ oder beim New Yorker Designer Jeremy Pyles mit seiner riesigen Glaskugel- Hängelampe „Solitair“. All dies ist unplugged Design in reiner Form.

 

INDUSTRIEROMANTIK UND DIE VERGÄNGLICHKEIT ALS SCHÖNHEIT

„Industrie-Chic“ beschreibt dieses Phänomen und die Entwicklung vom ernsthaften Design mit Werten wie Nachhaltigkeit und Beständigkeit. „Industrie-Chic“ verbindet Sustainable Design (Ecodesign) und herbe, gelebte Schönheit. Hier werden „handwerkliche“ und „ehrliche“ Materialien der glatten und perfekten Marketingästhetik bevorzugt. Die Formen und Linien wirken nicht kühl, sondern verraten die Leidenschaft der Macher und Besitzer für Details und Qualität. Dieses Design ist eine Antwort auf die globale Revolution zu Gunsten der lokalen und handgefertigten Materialien und zu Gunsten von schönen, erarbeiteten Designobjekten, die die Zeit überdauert haben. Die archaische Stärke ist wie ein Elixier für unsere Gesellschaft. Auch in der Kunst hat dieses Phänomen bereits Einzug gehalten mit den wunderbaren Design-Kunstobjekten aus Glas des Holländers Pieke Bergmans. Mit Namen „light bulb” verwandeln sich die Glühbirnen aus alten Industriedeckenlampen zu riesigen grossen Glasbubbles, die aus der Fassung heruntertropfen. Dort, wo ein alter Industriewerktisch mit eingespannter Metalltischlampe harmlos wirkt, wird dieser durch die Glasglühbirne, eine zur Tischplattengrösse enorme Glasblase, gestört. Oder dort, wo der Glasbläser aus einer schwarzen Metallindustriedeckenlampe eine meterlange Glühbirne herunterlässt.

 

INDUSTRIALPIONIERGEIST DER JAHRHUNDERTWENDE

Dieser neue „Industrie-Look“ aus der Jahrhundertwende hat seine Kühle abgelegt. Es werden ein neuer Materialumgang und eine Besinnung auf die Vernunft der Dinge gefordert. Das klingt nach Bauhaus und Respekt gegenüber den Errungenschaften der Moderne. Eine neue Generation von Avant-Garde-Konsumenten wendet sich diesen neuen Brands zu, welche Recycling, Up-Cycling, nachhaltigen Style und Biotextilien zu ihrem Mantra gemacht haben. Ein besserer Weg zu leben und zu konsumieren. Fabrikobjekte, funktional, schlicht und bescheiden, haben einst schon das Bauhaus mit seinen Architekten und Gestaltern überzeugt und beflügelt. Industriemöbel sind aber auch Prototypen der „Moderne“. Das Design dient als Katalysator für den Gesellschaftswandel. Diese schlichten Industriemöbel und -Accessoires strahlen eine einfache, klare und dadurch positive Schönheit aus. Das schlichte schwarze, metallische Sortiment der Lampe Gras aus dem Jahre 1921, von Bernard-Albin Gras konzipiert, wird wieder neu vom Produzenten DCW Paris aufgelegt, eine originalgetreue Re-Edition. Sie ist in vollendetem Design und hochwertig hergestellt aus einer längst vergangenen Zeit. Die originale Lampe, die einst für industrielle Zwecke entwickelt und von Le Corbusier für seine Standard-Beleuchtungen seiner Häuser entdeckt wurde. Solche Kreationen erinnern uns an die Zeit der Schwerindustrie, als es noch echte Arbeit gab und man am Abend wusste, was man geleistet hatte. Diese mit Zeitspuren versehenen Designobjekte lösen eine neue emotionale Ruhe und Sicherheit in uns aus, als Gegenbewegung zu den gesellschaftlichen Unsicherheiten. Wir lernen, dass Design in Zukunft nach neuen Strategien verlangt.

 

HANDMANUFAKTUREN AUTHENTISCH UND ECHT

ES werden auch wieder seltene und vernachlässigte Obstsorten neu kultiviert und damit auch dem Vergessen entzogen und so ein Beitrag zur Nachhaltigkeit geleistet. Schnäpse aus vollreifen Früchten werden gebrannt und gelagert, um die Geschmacksträger in Glasballonen der harmonischen Selbstfindung zu überlassen. Angetrieben durch den Wunsch, Qualität zu schaffen und durch Hingabe neu zu definieren, wird die Reise in die Vergangenheit angetreten. Nicht nur die Produkte wirken wie aus einer anderen Zeit, auch die Geschichten um sie. So kommt das wunderbare Destillat aus einer scheinbar anderen Welt. Eingebettet in die sanften Vulkanhügel des Oberen Hegaus liegt die Stählemühle am Münchhöfer Mühlenbach. Diese traditionsreiche Destillerie glaubt nicht nur an den „Geist der Frucht“, sondern auch an deren „Seele“. Der Genuss derer Destillate ist daher mehr als nur ein fruchtiges Geschmackserlebnis – es ist das Erlebnis, unter einem Obstbaum zu stehen und den gesamten Kreislauf der Frucht – Wachstum, Blüte, Reife bis hin zu ihrer Verwesung – im konzentrierten Moment eines einzigen Schlucks zu erfahren. Die Destillate werden in kleinsten Auflagen und Liebhaber-Editionen erzeugt und so sind die Edelbrände in der Regel schon vor der Ausreifung im Glasballon oder Fass ausverkauft. Ihre wunderschönen braunen Apotheker-Glasflaschen sind mit einem Etikett versehen, dessen Grafik auf die Jahrhundertwende schliessen lässt. Jedes ist natürlich liebevoll von Hand angeschrieben. Vergangene Zeiten spenden auch Trost und Wohlgefühl.

 

ELIXIER EINER NEUEN GENERATION

Wir möchten modern, praktisch und zeitgemäss wohnen, sehnen uns aber auch nach Gelebtem und Geschichte. Eine hochgeistige Elite von Designern bevorzugt nun den unsichtbaren Stil. Daher wird Fashion und Design das Gelebte und Gebrauchte suchen. Das Comeback des Industriemöbels ist klar da. Design als gesellschaftliche Kraft? In versteckten Hinterhöfen oder an unscheinbaren Orten f inden wir Shops wie der Möbel & Accessoires-Laden „Walter Vintage“ in Zürich. Dort kann man schöne alte, gebrauchte Industrialvintagemöbel finden, dazu die passenden Leinentuch- Abtrocknungstücher in Graublau. Viele Unikate und Einzelstücke sind zu entdecken. In solchen Läden finden wir die schönen Allzwecktaschen aus gewachster Naturbaumwolle mit Ledergriffen vor. So zum Beispiel produzieren Steve Mono und seine wenigen Mitarbeiter diese Taschen von Hand in Bilbao unter der spanischen Marke Steve Mono. Alle Details sind durchdacht, liebevoll umgesetzt und erfreuen sich höchster Präzision. Steve Mono ist bei jedem Arbeitsschritt dabei, vom Gerben bis zur Verpackung und garantiert damit Qualität und Stilsicherheit für mehr als eine Saison. Für die Stofftaschen werden dieselben Textilien verarbeitet, wie sie die Fischer und Metzger in Spanien für ihre Schürzen verwenden. So ergeben sich wunderbare Farbkombinationen wie olivefarben gewachste Baumwolle mit hellem Kalbsleder. Oder mitten in einem rustikalen industriellen Ambiente im Quartier Saint-Germain in Paris befindet sich eine „Pizzeria“ mit unpassendem Namen „Pizza Chic“ zwischen all den Luxuslabeln mit einem Eckeingang, welcher den Eindruck erweckt, als ob es in einer alten brachgelegten Miniindustriehalle eröffnet worden sei.

Die handgemachte dünne Pizza wird im Ambiente von diesem ganz neuen Industriallook gemacht. Quadratische Rostmetallplatten an den Wänden und Industriemöbel-Artefakte werden mit weiss gedeckten Tischen und einem Meer von klassischen Glühbirnen als Deckenlampe kombiniert. Auch der Konzeptstore „merci“, welcher sich im Marais in einer alten Fabrikhalle befindet, präsentiert die vielen liebenswerten und einmaligen Produkte aus den verschiedensten Handmanufakturen dieser Welt. Nur ein paar Meter davon entfernt gibt es ein weiteres im Industrie-Shabby-Look gehaltenes Restaurant mit Bar namens „Grazie“. Auch hier herrscht der Industriallook. In jeder Stadt finden wir solche Beispiele. Auch der Restaurantladen „Times“ in Zürich mit sehr guter einfacher, authentischer und ehrlicher Küche und seinem integrierten Laden voller Unikate gehört dazu. Oder das Hotel Daniel in Wien mit seinen rohen Betondecken und den schwarzen Fabriklampen aus der Jahrhundertwende über den Betten ist ein Teil davon. Sie alle sprechen dieselbe neue Sprache: „Ehrlichkeit“!

 

 

* Joan Billing ist Trendforscherin und arbeitet unter anderem auch für die Trend-Ikone Li Edelkoort. Joan Billing entführt Sie als Gastautorin von Ladies Drive an dieser Stelle jeweils in die faszinierende Welt der Trends.

 

Veröffentlicht am Juli 21, 2012

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