Was verstehst du als Psychologin unter „Liquid Youth“?
Ines Imdahl: Tiefenpsychologisch stecken interessante Bilder im Begriff „Liquid Youth“: Etwas Vergängliches und im Prinzip Unwiederbringliches wie die Jugend soll „verflüssigt“ werden. Die sinnbildlich in Reagenzgläser abgefüllte Jugend wird so für Ältere wieder verfügbar. Die immer beliebter werdenden Blutplasmatransfusionen, die die Hirnalterung aufhalten sollen (von jüngeren an ältere Menschen), zeigen die geheime Vorstellung von „flüssiger Jugend“ besonders deutlich. Immer schon haben Menschen begehrt, was nicht unbegrenzt verfügbar oder vergänglich war. Und immer schon haben sie versucht, dies zu reproduzieren. Flüssige Jugend ist wie das Gold der Neuzeit. Unsere Kultur betreibt ähnlichen Aufwand, Jugend künstlich herzustellen, wie die Alchimisten seinerzeit bei der Herstellung von Gold. Durch das nahezu magische Bild der Verflüssigung wird Jugend beweglich und kann scheinbar überall „hineinfliessen“ – auch ins Alter.
Woher kommt dieser Megatrend? Was sind seine Ursachen?
Macht, Einfluss sowie Bedeutsamkeit sind heutzutage an Jugend und Schönheit geknüpft. Damit symbolisiert sichtbare Jugend heute die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Diese wiederum ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie war aber bei Weitem nicht immer an das Jungsein geknüpft. Religiöse Vorstellungen von der Wiederauferstehung des Körpers oder der Himmelfahrt der Seele bedienen die gleiche Sehnsucht nach Unsterblichkeit. In westlichen Kulturkreisen sind Versprechen auf ewiges Leben im Jenseits aber nicht mehr so bedeutsam wie früher. Heute ist der Glaube an die ewige Jugend an irdische Fortschritte der Medizin geknüpft. Paradoxerweise gehen damit oft magische Wirkvorstellungen einher. Kaum ein Tag vergeht, an dem keine Wunderpillen, -spritzen oder -behandlungen gegen das Altern auf den Markt kommen. Unser starker Fortschrittsglaube, gepaart mit dem Wunsch, Jugend wirklich „verflüssigen“ zu können, führt zu einer Art magischem Denken. Nahezu alles scheint möglich. Und lässt uns nur allzu leicht glauben, bei Versprechen rund ums Jungbleiben sei alles Gold, was glänzt.
Worin siehst du Gefahren, insbesondere für Frauen?
Für Frauen ist der Druck, die Möglichkeiten zu nutzen, zu machen, was möglich ist, viel grösser. Denn Jugend ist viel enger an das Thema Schönheit geknüpft. Frauen wird immer noch – unbewusst – mitgegeben, attraktiv sein zu müssen, um sich einen Partner oder auch Job zu angeln. Kompetenz oder guter Charakter sind hier seltener ausschlaggebend. Über das Äussere von Frauen wird in der Öffentlichkeit mehr gesprochen als über ihre Leistungen. Frauen selbst bemessen ihren Wert oft – ebenfalls unbewusst – an ihrem Äusseren. Viele (soziale) Medien prangern unverblümt an, wenn eine prominente Frau irgendwo eine Alterserscheinung mehr aufweist. Aller Body-Positivity zum Trotz scheint alt auszusehen zunehmend zur Zumutung zu werden. Natürlich wird sich auch mokiert, wenn die Schönheit durch Botox oder aufgespritzte Lippen allzu künstlich hergestellt aussieht. Jugend und – scheinbare – Natürlichkeit sind das Ideal.
Erkennst du auch Chancen?
Bei aller Kritik an der Fokussierung auf die Äusserlichkeiten, die ich teile, bringt Liquid Youth für die Frauen neue Spielräume und Freiheitsgrade. Altersnormen, Verhaltensregeln werden ebenfalls fliessend, Longivity-Konzepte helfen nicht nur jung auszusehen, sondern eben auch gesünder alt zu werden.
Du führst aktuell eine Studie „50+ und Schluss“ durch. Was ist der Hintergrund für diese Studie?
Die Idee der Studie knüpft daran an, dem Altern einen eigenen neuen Wert zu geben. Denn wir haben aktuell kein positives Bild des Alters. Es ist wertlos im Vergleich zur Jugend. Auch weil es immer häufiger werden wird. Aber sollte es deswegen unattraktiv sein? In rund fünf Jahren sind etwa 50 Prozent der Menschen in der DACH-Region über 50. Ausserdem werden alle Menschen 50 plus in einen Topf geworfen. Haben wir in Unternehmen und der Werbung eine Differenzierung von Zielgruppen in Zehnjahresschritten, sind Menschen, die älter als 50 sind, in einer Zielgruppe mit den eigenen Eltern! Dabei ist man mit 50 genauso weit weg von 20 wie von 80. Werbetreibende, Markenanbieter und auch die Personalsuche fokussieren aber durchgängig auf die Gen Z. Jung ist nicht nur Trend, sondern das Mass aller Dinge. Wir finden, das ist Grund genug, einen Gegentrend zu initiieren, aufzuräumen mit Vorurteilen und Klischees rund um das Älterwerden.
Was bedeutet das für uns als Menschen, als Unternehmerinnen, als Managerinnen, als Wirtschaftsstandort, als Firma oder als Gemeinschaft?
Wir können viel mehr Potenzial heben, wenn wir dem Ältersein nicht immer nur einen Mangel an Jugend zuschreiben, sondern einen Mehrwert an Erfahrungen, Wissen, Stolz und Gelassenheit. Früher wurden Menschen bewundert, die ein gewisses Alter erreichten. Zu diesem Stolz sollten wir zurückkehren und verstehen, dass jede Lebensphase einen Sinn und Mehrwert hat. Und nicht allein eine grosse Menge etwas wertloser macht als Seltenes. Im Gegenteil: Es kann auch eine grosse Kraft für Unternehmen und unsere Gesellschaft darin gesehen werden. Viele Markenanbieter glauben zum Beispiel, sie müssen unbedingt Gen Z für sich gewinnen, um mittelfristig nicht zu sterben. Dabei können sie sich allein mit dem Fokus auf Ältere eine sofortige Lebensverlängerung verschaffen – von bis zu 30 Jahren. Viel weiter plant kaum ein Unternehmen.
Die Leute sollen immer länger arbeiten gehen, fallen aber ü50 durch das KI-Raster der HR-Abteilungen. Was ist hier zu tun?
KI ist Part unseres zum Teil unhinterfragten Fortschrittglaubens. Ihr wird ein fast schon religiös blindes Vertrauen entgegengebracht. Entscheidungen werden kaum hinterfragt. Genau da liegt das Problem: KI sollte nicht entscheiden. Sie ist kein unfehlbarer Gott. Sie trifft unglaubliche Entscheidungen, weil sie nur das berechnen und lernen kann, womit sie gefüttert wird. Inzwischen ist auch klar: KI verstärkt eher bestehende Diskriminierungen, als sie aufzulösen*. KI sollte – egal wo – als Unterstützung und Arbeitsentlastung fungieren. Nie aber selbst- und eigenständig Entscheidungen über Jobs, Kredite oder gar Strafmasse verhängen dürfen, ohne die Möglichkeit menschlicher Einflussnahme.
Welche Art von Leadership ist in unserer „50 über 50“-Gesellschaft gefragt?
Das mag jetzt schlicht klingen, aber meine Antwort lautet: menschliches Leadership. Führung, die alle Vorteile des Menschseins berücksichtigt: Diversitäten, unterschiedliche Stärken, Empathie und Empfindsamkeiten. Gerade und auch durch menschliche Fehler, durch Unperfektes und Unvorhersehbares entwickeln wir uns gemeinsam weiter und lernen. Perfektion ist nicht nur langweilig, sondern auch ein Entwicklungs- und Innovationskiller.
Hast du drei Empfehlungen für unsere Community, wie sie dem Altern konstruktiv begegnen kann?
- Jugendtrend als persönliche Chance begreifen, die eigenen Freiheitsgrade zu steigern. Denn Weibliches ist oft – unbewusst – noch in vielen Konventionen gefangen.
- Sich durch den Jugendwahn nicht unter zusätzlichen Druck setzen lassen, sondern nur das nutzen, was persönlich glücklich macht und Freude bereitet.
- Einen Gegentrend starten, um das Alter aufzuwerten. Alter hat schliesslich jeder! Am Gegentrend kann jeder mitwirken, bei sich selbst und in seinem persönlichen Umfeld. Denn: Wer glaubt, er sei zu klein, um etwas zu bewirken, hat noch nie mit einer Mücke in einem Zimmer geschlafen.
INES IMDAHL
ist Psychologin, Morphologin und Gründerin des Marktforschungsinstituts rheingold salon. Sie zählt zu den 40 inspirierendsten Frauen über 40 und findet es wichtig, das Narrativ umzuschreiben, um ein positives, selbst- und wertschätzendes Verhältnis zum Alter zu entwickeln.