Die 70/70-Regel

Interview: Claudia Gabler
Foto: Meier & Kamer GmbH

Ladies Drive - Die 70/70-Regel
Ausgerechnet im Kanton Schwyz, dem man gerne unterstellt, nicht ganz so progressiv zu sein, erst recht nicht, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht, erblüht gerade ein Mentoring-Programm für Berufseinsteigerinnen. Dabei geht es nicht nur um Karriereplanung, Auftrittskompetenz und Lohnverhandlungen, sondern auch darum, dass es äusserst unschlau ist, als Mutter die Karriere an den Nagel zu hängen. Weshalb das so ist und was es mit der 70/70-Regel auf sich hat, erklärt Claudia Hiestand, Mitinitiatorin und Programmleiterin des Schwyzer Mentoring-Programms.

Swiss Ladies Drive: Viele Frauen hängen ihre Karriere an den Nagel, wenn sie Mutter werden. Das ist nicht in allen Ländern so. Warum haben Frauen in der Schweiz das Gefühl, sie müssen sich zwischen Familie und Karriere entscheiden?

Claudia Hiestand: Frauen müssen sich auf keinen Fall zwischen Familie und Karriere entscheiden! Warum sie es trotzdem tun, hat mehrere Gründe. Einerseits ist die Gründung einer Familie ein sehr einschneidendes Erlebnis. Selbst wenn man vorher mit seinem Partner aushandelt, die Erwerbs- und Care-Arbeit paritätisch zu teilen, greifen viele Paare nach der Geburt des ersten Kindes trotzdem wieder auf das zurück, was ihnen vertraut ist, sprich auf die traditionelle Rollenaufteilung. Das gibt ihnen in dieser sensiblen Phase vermeintlich Halt und Sicherheit. Zudem ist tief in uns das Bild der „guten Mutter“ verankert, was gleichbedeutend mit körperlicher und emotionaler Anwesenheit ist. Gleichzeitig erwartet die Gesellschaft, dass Frauen das Muttersein als etwas Erfüllendes betrachten und dass Muttersein mit bedingungsloser Liebe und Glücksgefühlen einhergeht. Den Mut aufzubringen, diesem Bild nicht zu entsprechen, ist anstrengend, weil frau sich dann mit diversen Fragen oder sogar Angriffen konfrontiert sieht und sich womöglich rechtfertigen muss. Für Frauen ist es jedoch verhängnisvoll, in den alten Mustern zu verharren.

Warum ist die traditionelle Rollenverteilung für Frauen verhängnisvoll?

Sie bringt viele Nachteile für Frauen mit sich. Mutterschaft ist immer noch ein Wendepunkt in der Erwerbsbiografie von Frauen. Nicht so bei Männern. Viele Frauen haben die Nachteile nicht so auf dem Radar, oder sie erkennen diese erst ein paar Jahre nach der Familiengründung. Zudem fehlt es an Vorbildern, die junge Mütter darauf hinweisen, wie wichtig es ist, im zu Job bleiben und ihr Pensum nicht auf die klassischen 20 oder 40% zu reduzieren. 

Oft kommt hier das Gegenargument, dass die Kinderbetreuung so teuer sei, dass Frauen gleich zuhause bleiben könnten.  

Das ist zu kurz gedacht. Ich möchte vorausschicken, dass es nicht nur im Interesse der Frauen ist, in die Kinderbetreuung zu investieren. Wenn die Frau zum Erwerbseinkommen beiträgt, entlastet dies auch den Mann. Andernfalls bleibt auch er gefangen in alten Rollenmustern und der Erwartung, als Mann alleine die Familie ernähren zu müssen. Es ist doch auch für einen Mann viel entspannter, wenn er die Verantwortung mit der Partnerin teilen und eine engere Bindung zum Kind aufbauen kann.

Mit Blick auf die Frau ist der wichtigste Grund, im Erwerbsleben zu bleiben, ihre finanzielle Unabhängigkeit sowie ihre berufliche Vorsorge, sprich dass sie weiterhin in die erste und zweite Säule einzahlen kann. Altersarmut betrifft vor allem Frauen, und zwar unter anderem genau aus diesem Grund: Frauen arbeiten in einem kleinen Pensum oder unterbrechen sogar ihre Erwerbstätigkeit, wenn sie Mutter werden.

Hinzu kommt: wenn Frauen im Job bleiben und ihre Karriere vorantreiben, bleiben sie up to date in ihrem Fachgebiet. Das ermöglicht ihnen langfristig mehr berufliche Möglichkeiten und Aufstiegschancen.

Du hast selbst drei Kinder. Wie ist deine persönliche Erfahrung als „berufstätige Mutter“?

Für mich ist es so, dass meine berufliche Tätigkeit Erfüllung mit sich bringt. Ich persönlich fand den Alltag daheim bei den Kindern nie so prickelnd. Ich habe es immer geschätzt, zusätzlich noch eine andere Herausforderung zu haben, die mir Anerkennung und Erfolg bringt. Erfolgserlebnisse im Beruf steigern das Selbstwertgefühl, das dürfen wir nicht unterschätzen. Ausserdem verdiene ich gern Geld. Wer im Job bleibt und die Karriere vorantreibt, kann zudem sein Netzwerk aufbauen. Und wir alle wissen, dass Netzwerk Gold wert ist. Gute Kontakte eröffnen neue berufliche Chancen. Und zu guter Letzt leisten Frauen durch ihre berufliche Tätigkeit einen wertvollen Beitrag für unsere Wirtschaft und Gesellschaft, Stichwort Fachkräftemangel. Wir brauchen die Frauen. Wir brauchen ihr Know-how und ihre Erfahrung in der Wirtschaft. Sie sind eine wichtige Stütze, auch für die wirtschaftliche Stabilität der Schweiz. Ich bin sicher: Als Eltern sind wir dann ein gutes Vorbild für unsere Kinder, wenn wir Care- und Erwerbsarbeit paritätisch untereinander aufteilen. Das hilft, Geschlechterstereotypen zu durchbrechen.

Das klingt alles sehr einleuchtend. Trotzdem bleiben viele Frauen dennoch zuhause. Woran liegts?

Da ist einerseits der ungewollte Rückfall in die traditionellen Rollenmuster, bedingt durch ein furchtbar schlechtes Gewissen, das vor allem wir Frauen haben, wenn wir unsere Kinder in die Kita geben. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass Frauen umdenken und auch die Chance sehen, die eine Kita bietet. Kinder können dort so viele tolle Erfahrungen machen, die wir ihnen im kleinen Familien-Setting gar nicht bieten können. Abgesehen davon, dass familienergänzende Betreuung teuer ist, höre ich auch immer wieder von einem mangelnden Angebot. Dieses trifft obendrauf dann zum Teil noch auf konservative Unternehmenskulturen, also mangelnde Flexibilität in Sachen Arbeitszeit oder fehlende Homeoffice-Optionen, die es erschweren, Vereinbarkeit zu leben. Dazu gehören übrigens auch Teamsitzungen, die an Randzeiten stattfinden, sprich morgens um 8.00 Uhr oder abends um 17.00 Uhr, also dann, wenn du das Kind in die Kita bringen oder dort abholen musst.

Spielt auch die Ungleichbehandlung von Frau und Mann am Arbeitsplatz eine Rolle?

Auf jeden Fall. Unternehmen zögern immer noch, Frauen im gebärfähigen Alter einzustellen oder eine Mutter in eine höhere Position zu befördern. Sie denken, Frauen seien weniger verfügbar, weil sie sich in die Familienpflege eingeben, oder ihre Loyalität gegenüber der Firma sei nicht mehr so hoch. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall! Als ich meine drei Kinder bekommen habe, war ich über all die Jahre beim gleichen Arbeitgeber angestellt. Die Firma hat mir dreimal die Chance gegeben, wieder zurückzukommen. Das hat meine Loyalität gegenüber meinem Arbeitgeber damals enorm erhöht. Ich war dankbar und habe gerne und engagiert für das Unternehmen gearbeitet. Unternehmen müssen umdenken, denn Mütter sind sehr zuverlässige Arbeitnehmerinnen und zudem wahre Organisationstalente!

Und sie können mit Unvorhergesehenem umgehen.

Genau! Deshalb empfehle ich Frauen immer: Bring das beim Vorstellungsgespräch oder bei der Lohnverhandlung ein! Viele Skills, die du dank dem Muttersein perfektioniert hast, sind für ein Unternehmen äusserst wertvoll.

Es gibt ja zum Glück auch gute Vorbilder. Einige davon wirken in eurem kürzlich lancierten Mentoring-Programm mit. Wo setzt euer Programm an?

Die Mentees sind junge Frauen mit Lehr- oder Studienabschluss, am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn. Sie können mit ihrer Mentorin oder ihrem Mentor ihre beruflichen, aber auch privaten Fragen diskutieren, von den Erfahrungen einer etablierten Persönlichkeit aus der Wirtschaft profitieren und werden bei der Entwicklung beruflicher Perspektiven und ihrer Karriereplanung bestärkt und motiviert. Zudem sensibilisieren wir Mentees im Rahmen von Veranstaltungen für relevante Themen wie Vereinbarkeit, Gender Pension Gap, Karriere-Planung und Karriere-Knicks. Referent:innen teilen ihr Wissen an physischen Events und virtuellen Inputsessions.

Was interessiert die Mentees am meisten?

Auftrittskompetenz, Lohnverhandlungen und Karriereplanung. Darauf basierend haben wir die passenden Referent:innen gesucht, welche ihre Tipps und Tricks gerne teilen. Zudem ermutigen wir die Mentees, von ihren Partnern alles einzufordern, was gemeinsame Kinderbetreuung, Haushalt, Erwerbsarbeit und Mental Load betrifft. Sie müssen darauf bestehen, die Aufgaben möglichst paritätisch zu verteilen und daran auch festzuhalten, wenn das erste Kind kommt. Gemäss der Fachstelle für Gleichstellung des Kantons Zürich ist das Modell, das sich am besten auszahlt – auch finanziell – das Modell 70/70: Frauen und Männer arbeiten zu je 70% weiter. „Augen auf bei der Partnerwahl“, hat Helena Trachsel, die ehemalige Gleichstellungsverantwortliche des Kantons Zürich, jeweils so schön formuliert. Es lohnt sich, den Mindset des Partners frühzeitig abzuchecken!

Wie viele Mentees nutzen das Schwyzer Mentoring-Programm?

Wir haben im jetzigen ersten Zyklus 40 Mentees, die mitmachen. Und es haben sich mehr als 80 Frauen und Männer gemeldet, die sich als Mentor:innen zur Verfügung stellen. Das zeigt einerseits, wie gross das Bedürfnis junger Frauen ist, und andererseits, wie viele Menschen bereit sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit jungen Frauen zu teilen. Das finde ich grossartig!

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft mit dem Schwyzer Mentoring?

Die Resonanz aus dem ersten Durchgang ist sehr erfreulich. Mentees profitieren, aber auch die Mentor:innen freuen sich, die Welt durch die Augen junger Menschen sehen zu dürfen. Unser Ziel ist es, regelmässig im Zweijahresrhythmus einen Zyklus anzubieten.

Ab wann kann man sich für den zweiten Zyklus bewerben?

Interessierte Mentor:innen und Mentees können sich jetzt schon anmelden. Wir starten den nächsten Zyklus im Herbst 2024.

Und was, wenn nun andere Kantone auch auf den Geschmack kommen und aktiv werden wollen?

Dann können sie sich jederzeit bei mir melden. Ich teile gerne unsere Erfahrungen und unser Konzept. Nachahmerinnen in der ganzen Schweiz sind herzlich willkommen. Je mehr Kantone ein Mentoring-Programm anbieten, desto besser ist das für die Gleichstellung der Geschlechter im Arbeitsleben.

Wer steckt hinter dem Mentoring-Programm im Kanton Schwyz?

Ich bin sehr stolz, dass wir im konservativen Kanton Schwyz ein so innovatives Mentoring-Programm lancieren durften. Das haben wir Susanne Thellung zu verdanken. Sie ist CEO der Schwyzer Kantonalbank und zudem die erste Frau an der Spitze einer Kantonalbank. Sie nutzt ihre Position unter anderem dafür, etwas für junge Frauen auf die Beine zu stellen, das nachhaltig ist. Sie konnte sehr rasch andere Frauen für ihre Idee des Mentoring-Programms gewinnen. So sind die Kerngruppe und das Konzept entstanden. Und dann haben wir einfach losgelegt.

www.schwyzer-mentoring.ch

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Im Oktober 2022 startete das Schwyzer Mentoring-Programm für junge Berufseinsteigerinnen mit einer Auftaktveranstaltung mit Reden, Podium, Umfrage und Speed Dating. Veranstaltungsort war die PH Schwyz in Goldau. Mentees sowie Mentorinnen und Mentoren trafen dabei erstmals aufeinander.

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Wirtschaftsgeografin Karin Schwiter von der Universität Zürich erläuterte den Mentees an der Reflexionsveranstaltung ihre Forschungsergebnisse zu den Lebensentwürfen junger Menschen.

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Programmleiterin Claudia Hiestand, 50, freie Journalistin und Expertin für die Geschichte der politischen Gleichstellung im Kanton Schwyz.

Interview: Claudia Gabler

Photo: Meier & Kamer GmbH

Veröffentlicht am September 19, 2023

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