Altern Ohne Grenzen

Text: Stefan Kaiser

Der demografische Wandel zwingt uns, umzudenken. Bildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand sind bald keine getrennten Lebensphasen mehr, sondern finden gleichzeitig statt. Welche Herausforderungen das für Wirtschaft und Gesellschaft bringt, zeigt eine neue GDI-Studie.

Haben Sie eine klare Vorstellung von Ihrem Leben nach der Pensionierung? – Wenn Sie jetzt ins Zögern kommen, sind Sie nicht allein: Die meisten Menschen machen sich zu ihrem Altsein wenig bis gar keine Gedanken. Das betrifft nicht nur die Altersgruppen unter 40 Jahren, auch die 50- bis 60-Jährigen beschäftigen sich kaum mit dem Thema Zukunftsplanung. Stattdessen werden an das «dritte Lebensalter» oft Klischee-Bilder geknüpft, wofür die Generation der Grosseltern als Rollenmodell dient. Daher dominieren in unserer Gesellschaft Vorstellungen aus dem Industriezeitalter.

Dabei verändert sich gerade alles, was mit dem Leben im Alter zusammenhängt. «In der heutigen Situation ist es sinnlos, wenn wir auf der Fahrt in die Zukunft nur in den Rückspiegel schauen», sagt David Bosshart vom GDI Gottlieb Duttweiler Institute. Der vom Migros-Kulturprozent geförderte Thinktank stellt den traditionellen Klischees eine druckfrische Studie zum Altsein im digitalen Zeitalter entgegen. Sie liefert uns neue Bilder für die Zeit nach der Pensionierung.

 

«VORBEREITUNG IST DIE HALBE MIETE!»

Laut GDI-Studie gibt es zwei wesentliche Treiber für den gegenwärtigen Umbruch: Erstens erreicht mit den Babyboomern eine erlebnishungrige Generation das Pensionsalter, die an alles andere denkt, als sich aus einem aktiven und selbstbestimmten Leben ins Alters-Schneckenhaus zurückzuziehen. Und zweitens investieren die führenden Firmen des Silicon Valley massiv in Technologien, die das biologische Alter verlängern. Der von diesen Treibern ausgelöste Wandel fordert zeitgemässere Vorstellungen der Zukunft.

Rein statistisch gesehen wird die Hälfte der heutigen Babys 100 Jahre alt. Der unaufhaltsame medizinische Fortschritt hinter dieser Zahl bedeutet, dass im Jahr 2115 die Hundertjährigen zu Tausenden auf unseren Strassen unterwegs sein werden. Welche Konsequenzen hat das für den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt? Wie gehen wir mit neuen Erwartungshaltungen um? Und wie wird sich das Zusammenleben der Generationen entwickeln? Vom Altersboom betroffen sind nicht nur die überforderten Sozialsysteme, sondern alle Lebensbereiche – von Wirtschaft und Gesellschaft bis zu Bildung, Kultur und Freizeit.

«Vorbereitung ist die halbe Miete!», lautet der Tipp von David Bosshart. Der CEO des GDI lässt durchblicken, dass künftig «die Eigenverantwortlichkeit» der Menschen entscheidend sein wird. Das impliziert neue Modelle von Sozialstaat und Vorsorge, von Versicherungen und individueller Lebensplanung sowie nicht zuletzt auch neue Arbeitsmodelle und Formen der gegenseitigen Unterstützung. Um besser vorbereitet zu sein, haben die Zukunftsforscher des GDI den neuen Alten mit einer repräsentativen Umfrage auf den Puls gefühlt.
Aufbruch statt Bewahrung

Die GDI-Umfrage zeigt, dass sich die 70- bis 80-Jährigen rund 16 Jahre jünger schätzen als es ihr Geburtsdatum angibt (Männer fühlen sich 18,5 Jahre jünger, Frauen 14 Jahre). Auch beschreiben viele Pensionäre einen «Bruch» in der Selbstwahrnehmung um das 60ste Lebensjahr: Man sieht sich nicht auf dem Abstellgleis, sondern geht davon aus, dass das aktive, gesunde Leben noch sehr viel länger dauern wird. Deshalb steigt ab 60 die sogenannte Wachstumsorientierung aus der ersten Lebenshälfte wieder an: Im Zentrum der Lebensplanung steht jetzt nicht mehr das Bewahren des Erreichten – Partner, Familie, Besitzstand, Eigenheim –, sondern der Aufbruch zu neuen Ufern. Es geht um den Erwerb von Fähigkeiten und die Erweiterung der Tätigkeiten – Weiterbildung, Reisen, neue Kontakte, Freiwilligenarbeit.

Angesichts der neuen Altersrealitäten ergibt unsere gesellschaftliche Organisation mit starren Altersgrenzen und identischen Lebensmustern für alle wenig Sinn. Der Trend geht dahin, dass die drei Phasen Bildung, Erwerbsarbeit, Ruhestand nicht mehr nacheinander absolviert werden, sondern gleichzeitig. Weshalb soll man ein Jahr der Rente nicht bereits mit 40 beziehen, wenn die Kinder noch jung sind? Und mit 50 und 60 ein weiteres Sabbatical zum Reisen und für soziale Projekte? Weshalb soll jeder seinen gut geölten Arbeitsmotor mit 65 Jahren für immer abwürgen? So muss die ETH Zürich ihre Nobelpreisträger per Altersguillotine in den «Ruhestand» abschieben – woraufhin diese von ausländischen Universitäten mit Handkuss aufgenommen werden.

 

UNTERWEGS IN DIE ALTERSLOSE GESELLSCHAFT

Es ist klar: Mit dem Älterwerden der Bevölkerung wird sich die Arbeitswelt tiefgreifend verändern. Plötzlich wird denkbar, dass ein 50-Jähriger noch ein Medizinstudium absolviert und dann von 60 bis 90 als Hausarzt praktiziert. Auch wenn sich Arbeitgeber und Gewerkschaften bereits bei der anstehenden Flexibilisierung des Rentenalters schwer tun – solche Perspektiven kommen auf uns zu. Dazu genügt ein Blick auf die demografischen Zahlen.

Bei den gesellschaftlichen Vorstellungen vom Alter geht es um die wirksamen Bilder und die damit verknüpften Bedingungen. Schon heute ist nicht nur die Weisshaarige mit krummem Rücken alt. Alt ist ebenso der 85-jährige Finisher am NYC-Marathon, der viel jünger aussieht und sich auch so fühlt. Aber sein Bild haben wir nicht im Kopf. Die technologische Entwicklung lässt die Medizin in ungeahnte Bereiche der Selbstverbesserung vordringen. Dabei entstehen Diskrepanzen, die uns vor ganz neue Herausforderungen stellen. Denn neben den superfitten 85-Jährigen gibt es im Jahr 2030 auch sehr viele Menschen, die alt und krank sind (prognostiziert werden 75 Millionen Demenzpatienten).

Damit steuern wir auf eine Gesellschaft zu, die sich nicht mehr durch die Generationenabfolge definiert. Wohin diese Reise geht, ist derzeit offen; insbesondere das Verhalten der jüngeren Generationen ist schwer abschätzbar. Fest steht aber, dass wir die Diskussion über unsere gemeinsame Zukunft führen müssen. Die Studie «Digital Ageing» des GDI Gottlieb Duttweiler Institute präsentiert zu diesem Zweck vier Szenarien für das Altsein im Jahre 2030.

 

Vier Szenarien

Psychologisch wird das Altern als Übergang von Wachstumszielen zu Bewahrungszielen verstanden. Was sich gerade rasant ändert, ist der Zeitpunkt dieses Übergangs. Während sich unsere Grosseltern bei der Pensionierung in einem Rückzugsgefecht gegen die Zeit befanden und primär Bewahrungsziele hatten, tritt jetzt mit den Babyboomern eine Generation ins Pensionsalter ein, die Wachstumsziele umsetzen möchte. Kombiniert man die Wachstums- und Bewahrungswünsche der neuen Alten mit ihrer Technologienutzung, ergeben sich folgende Szenarien:

1) Conservative Ageing – Rückzugsgefecht gegen die Zeit
«Conservative Ager» altern zufrieden in ihrer Komfortzone. Ihr Fokus liegt auf der Bewahrung ihrer Fähigkeiten, doch dazu nutzen sie keine neuen Technologien. Die Gesellschaft stellen sie insofern vor eine Herausforderung, als sie zwar relativ alt werden, aber unflexibel sind und kaum Innovationen zulassen. Um ihr gesellschaftliches Potenzial zu erhalten, müssen sie entweder für klassische Aufgaben eingesetzt werden (Enkelbetreuung), oder man bereitet sie vor der Pensionierung auf neue Aufgaben und Ziele vor.

Steckbrief: Paul «Pauli»
Lieblingsessen: Gehacktes mit Hörnli
Philosophie: Was man hat, das hat man
Will noch erreichen: Erbe in gutem Zustand den Nachkommen übergeben
Reiseziel: Spazieren auf der Rigi

2) Rebel Ageing – Neuerfindung des Alters
«Rebel Ager» sind Menschen, die sich nicht mit dem Altsein begnügen. Sie sind wachstumsorientiert und nutzen neue Technologien, um in der analogen Welt mehr zu erleben. Rebel Ager starten in der Pensionsphase nochmals durch und gehen neue Herausforderungen an. Für die Gesellschaft ist wertvoll, dass sie die soziale Vernetzung fördern und ihre Energie in unternehmerische und gemeinnützige Aktivitäten stecken.

Steckbrief: Johanna «JoJo»
Lieblingsessen: Kugelfisch
Philosophie: Man bereut nicht, was man getan hat, sondern was man nicht getan hat
Will noch erreichen: Eine Affäre mit einem Promi
Reiseziel: Pamir Highway mit dem Velo

3) Predictive Ageing – Das Alter wird kalkuliert
«Predictive Ager» sind bewahrungsorientiert und nutzen zukünftige Technologien entsprechend. Sie messen ihre Gesundheitsdaten und genetischen Prädispositionen für Prognosen und Empfehlungen. Ihre enge technische Vernetzung lässt die Privatsphäre schwinden. Auch ihre Solidarität gegenüber Menschen, die nicht gesund leben, nimmt ab.

Steckbrief: Gertrud «Trudi»
Lieblingsessen: 160 Gr. Proteinpulver, In-vitro-Slim-Steak und Drink aus Goji-Beeren
Philosophie: Wie man sich bettet, so liegt man
Will noch erreichen: persönlichen Healthscore auf über 900 bringen
Reiseziel: Kurort mit der besten Healthscore-Aufwertungsquote

4) Ageless Ageing – Wir hacken das Alter
«Ageless Ager» setzen neue Technologien ein, um auf Arten zu wachsen, die sonst nicht möglich wären: von künstlichen Körperteilen über die Verlängerung des Lebens bis zur Unsterblichkeit. Materielle Güter nehmen, abgesehen von Körper-Updates, in ihrer Bedeutung ab, angepeilt werden neue Erfahrungen. Die Unsterblichkeit bringt Herausforderungen – für den Einzelnen die Sinnsuche, für die Gesellschaft Wachstumsgrenzen.

Steckbrief: Vincent «√!│∕│(3 3000»
Lieblingsessen: Lithium-Ionen
Philosophie: Wandel ist die einzige Konstante
Will noch erreichen: Alles
Reiseziel: Jupitermond Europa

 

Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin des Migros-Kulturprozent: www.migros-kulturprozent.ch

 

Veröffentlicht am November 17, 2015

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