Christina Kuenzle – Wenn Nichts Mehr Geht….

Text: Christina Kuenzle
Fotos: Günter Bolzern

Stellen Sie sich vor: Sie hätten einen Job, in welchem Sie gemobbt und gequält würden. In welchem Sie, obwohl Sie hart arbeiten, zu wenig verdienen, um zu leben. Stellen Sie sich vor, Sie hätten täglich Angst, Ihren miesen Job zu verlieren, weil Sie kaum einen besseren finden würden...

Was würden Sie tun? Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Krisengebiet. Die Angst, Ihre Kinder nicht schützen zu können, selbst nicht zu überleben, verletzt, vergewaltigt oder getötet zu werden, wäre omnipräsent. Jedes unbedachte Wort, jeder unvorsichtige Kontakt könnte Sie in Lebensgefahr bringen… Was würden Sie tun?

Bei uns geht es nicht um Leben und Tod. Verlieren wir unsere Stelle, dann haben wir noch 400 Tage Arbeitslosengeld. Werden die Vermieter und Nachbarn unerträglich, dann finden wir eine neue Wohnung. Werden Ehepartner(innen) unangenehm und verletzend, dann lassen wir uns scheiden. Wir haben eben Glück gehabt, oder wie ein tibetischer Lama es ausdrückte: „Du musst ein sehr gutes Karma haben, dass Du in der Schweiz geboren worden bist“. Trotzdem gibt es auch bei uns Schicksale, die – wenn wir auch nur einen Funken Empathie haben – sehr schmerzlich sind. Auch für uns ist es manchmal schwer, unsere Kinder vor Mobbing zu schützen, in unerfreulichen Arbeitssituationen auszuharren, mit Unsicherheit zu leben und unser Auskommen zu erhalten. Natürlich nicht Sie, liebe Leserin, auch nicht Ihr direktes Umfeld. Wir sind es gewohnt, gezielt wegzugucken (etwa so wie der Kellner, wenn Sie bezahlen wollen im überfüllten Restaurant). Wir werden auch nicht so sehr mit Schmerzlichem konfrontiert, denn alles was behindert, krank, arm und hässlich ist, wird weggepackt in der Schweiz.

So sind denn auch die unvorstellbaren Migrationsströme für uns nur als Zahlen und Probleme, manchmal als wüste Fernsehreportagen, in unserem Bewusstsein und nicht als die 60 Millionen Einzelschicksale der aller übelsten Sorte, die sie sind. Menschen in Umständen, die wir uns nicht mal ausmalen können, die uns das Herz brächen, wenn wir sie miterlebten. Millionen von Menschen, die für den Rest ihres Lebens – falls sie überleben – traumatisiert und geschädigt sein werden.

Können wir nicht helfen oder wollen wir nicht helfen?

Es ist Zeit, dass wir begreifen, dass die Menschheit eine einzige Familie ist. Wir haben genau jetzt die einzigartige Chance, zu beweisen, dass wir kultivierte, empathische Menschen sind. Es ist so einfach und logisch zu wissen, was wir tun müssen, wenn es um unsere eigene Kleinfamilie und unsere Freunde geht. Ist es denn so schwierig, wenn wir es in diesem übergrossen Ausmass antreffen? Was ausserhalb unseres direkten Beziehungsumfelds ist macht uns Angst. Wir kennen die Menschen nicht. Wir haben nichts mit ihnen zu tun. Sie könnten uns unseren Komfort, unseren Wohlstand und unsere Kultur verteufeln. Angst ist zwar ein schlechter Ratgeber, und doch agieren wir aus der Angst heraus. Wir haben auch Angst.

Was wir zurzeit am Dringendsten brauchen sind Liebe und Mut. Das Foto von Aylan hat uns gezeigt, dass Flüchtlinge auch Kinder sind. Kleine, unschuldige Kinder. Aylans Tod hat viele Menschen im Herzen getroffen und weil wir vor kleinen Kindern keine Angst zu haben brauchen konnten wir Mitgefühl und Trauer zeigen. Frau Merkel hat enorm grossen Mut bewiesen, als sie die Grenzen öffnete für Zehntausende. Es werden Millionen kommen und wir werden sie nicht daran hindern können. Ja, es wird schwierig werden. Ja, es wird Probleme geben und Kosten verursachen. Ja, es wird auch Unerfreuliches geschehen. Doch welche Wahl haben wir? Ist es nicht besser, frühzeitig, wirksam und freiwillig zu helfen, statt unter Druck gezwungen zu werden? Können wir 60 Millionen hilfesuchende Menschen in Lebensgefahr und ohne Hoffnung abweisen, ohne dass es irgendwann zu bewaffneten Konflikten kommt? Migrationsströme hat es immer gegeben und wird es immer geben. Vielleicht ist jetzt die Zeit der Frauen gekommen, die mit neuen Ansätzen, mit Liebe, mit Ethik und mit Verständnis handeln. Vielleicht ist es möglich, sich zu fragen: „Wie können wir helfen?“ anstelle von: „Wie können wir uns schützen?“

Vielleicht können wir das auch mal im ganz Kleinen versuchen: zum Beispiel für eine Kollegin eintreten, die gemobbt wird; oder die Kinder betreuen für eine Bekannte, die krank ist; oder einfach mal eine Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen nicht aussprechen; oder ganz einfach da helfen, wo wir gerade live mit einem Schicksal konfrontiert werden. Voraussetzung ist, dass wir hin- und nicht wegschauen, dass wir uns berühren lassen und mit Mut und Liebe agieren wenn nichts mehr geht. Vielleicht können wir dann, wenn wir es im Kleinen schaffen, auch die ganz grossen Problem wirksam anpacken, bewältigen und an ihnen wachsen. Vielleicht! – Wenn wir helfen wollen und helfen können.

 

*Christina Kuenzle – unsere langjährige Gastautorin ist Veränderungspsychologin und Executive Coach mit eigenem Unternehmen: www.choice-ltd.com

 

Veröffentlicht am Dezember 17, 2015

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