Beruflich habe ich es häufig mit verunsicherten Menschen zu tun. Einschneidende Lebensereignisse, unerwartete Veränderungen, neu auftretende Erkrankungen oder Einbussen der eigenen Leistungsfähigkeit resultieren in Ungewissheit über vieles, was einmal selbstverständlich war. Das Ungewisse löst bei den meisten Individuen Unsicherheiten aus. Bei einer geplanten Zukunft fühlen wir uns gewappneter, da wir zu wissen glauben, was auf uns zukommt. Indem das Ungewisse mit konkreten Vorstellungen ausgefüllt wird, ergibt sich ein Gefühl von Kontrolle und Bewältigbarkeit. Wenn hingegen plötzlich ungewiss ist, auf welche Zukunftsszenarien es sich vorzubereiten gilt, und Planung dadurch schwieriger wird, braucht es konstante Anpassungsleistungen, um sich in der sich wandelnden Realität immer wieder neu zurechtzufinden.
Persönlich habe ich ein Gefühl tiefgreifender Verunsicherung zum letzten Mal aufgrund einer Trennung empfunden. Was zuvor viel Halt bot – gewohnte Rahmenbedingungen, alltägliche Abläufe, Zukunftspläne –, ist plötzlich weggebrochen. Zurück blieb zunächst das Gefühl eines luftleeren Raums, den es Schritt für Schritt wieder auszufüllen galt. Dieser Prozess hat Kraft gekostet, aber auch neue Ideen und positive Energien freigesetzt. Rückblickend wurden dadurch auch Veränderungen in Gang gesetzt, die es vielleicht schon früher gebraucht hätte.
Somit kann das Unplanbare durchaus Chancen bieten. Indem wir gezwungen sind, dem Ungewissen unvorbereitet entgegenzutreten, können wir erfahren, dass sich auch unter sich verändernden Bedingungen wieder neue, zufriedenstellende Lösungen finden. Den Mut zu haben, übliche Wege zu verlassen und sich mit einer unsicheren, ungewissen Zukunft zu konfrontieren, stärkt somit das Vertrauen in die eigene Anpassungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz, sodass künftiger Ungewissheit gelassener begegnet werden kann.
Eine ungewisse Situation wird zum Stress, wenn eine Person infrage stellt, ob die vorhandenen inneren und äusseren Ressourcen ausreichen, um die Situation zu bewältigen. Es ist somit nützlich, sich seiner Fähigkeiten und Mittel stets bewusst zu sein. Zum einen hilft dabei ein Gerüst aus bereits etablierten Strukturen, auf die zurückgegriffen werden kann – z. B. ein Umfeld, das Vertrauen und Sicherheit bietet, oder ausgeübte Tätigkeiten, bei denen Stärken optimal zum Einsatz kommen. Zum anderen ermöglicht die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und vertretbare Risiken einzugehen, dass vorhandene Ressourcen auf die Probe gestellt und weiterentwickelt werden können. Mit zunehmender Klarheit über das eigene Können steigt das Gefühl von Bewältigbarkeit einer unsicheren Situation, was wiederum Gefühle von Motivation und Vorfreude statt Stress und Unsicherheit hervorruft.
Wenn trotzdem Stress entsteht, kann es hilfreich sein, das Gefühl von Unsicherheit einem sorgfältigen Realitätscheck zu unterziehen. Ist es bloss ein Gefühl oder basiert dieses auf Tatsachen? Was sind die schlimmsten Konsequenzen, die in einer unsicheren Situation drohen? Wie realistisch sind diese, und kann ich damit umgehen, falls diese tatsächlich eintreten sollten? Gibt es etwas, was ich tun kann oder sollte, um mich in einer Situation sicherer zu fühlen? Hierbei bewährt es sich, sich auf realistische Szenarien zu fokussieren und sich vorzustellen, wie diese erfolgreich bewältigt werden, statt sich mit Katastrophenszenarien zusätzlich zu ängstigen. Auch die Frage nach möglichen Quellen von sozialer Unterstützung kann entscheidend sein.
Schliesslich kann sich niemand jederzeit souverän und kompetent fühlen, sodass niemand vor Unsicherheit gefeit ist. Daher sollten wir eigenen Unsicherheiten grundsätzlich offen und ohne Scham begegnen und uns nicht scheuen, diese zu kommunizieren und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. In Zeiten von Unsicherheit lohnt es sich, von perfektionistischen Vorstellungen Abstand zu nehmen und sich einzugestehen, dass Pläne verworfen und Erwartungen von Zeit zu Zeit enttäuscht werden dürfen. Die Akzeptanz des Ungewissen kann helfen, den Druck, dass alles planmässig ablaufen muss, gar nicht erst entstehen zu lassen.
Auch wenn mein persönlicher Blick in die Zukunft von Momentaufnahmen geprägten Schwankungen unterliegt, blicke ich mit einer offenen, zuversichtlichen Haltung in die Zukunft. Diese ist genährt von der Überzeugung, dass sich, selbst wenn nicht alles den Vorstellungen entsprechend verläuft, immer auch Chancen für neue und aufregende Lebenssituationen bieten.
Vorname, Name: Dr. Patricia Waldvogel
Funktion, Firma: Stv. leitende Psychologin Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ)
Website: www.zadz.ch
Wenn ihr ein Wort hättet für das Thema „Sicherheit in der Unsicherheit“, eine Farbe oder ein Bild malen könntet, was wäre das? In Worten: Mut zur Veränderung.