Essen hat nicht nur mit alltäglicher Nahrungszufuhr zu tun, sondern immer mehr mit Genuss. Es wird vermehrt zu einem Kult. Wir zelebrieren, planen regelrecht bewusst viel Zeit für die Vorbereitung und den Genuss von Essen ein. Klar ist es nicht immer möglich, täglich ein ausgiebiges Ritual um die Mahlzeiten zu halten, und doch ist es offensichtlich, dass unsere Gesellschaft mit Nahrungsmitteln zunehmend bewusster umgeht. So entwickelt sich „Geniessen“ zum Katalysator eines Gesellschaftswandels. „Genuss“ steht aber auch für körperliches und geistiges Wohlbehagen. Er ist eine positive Sinnesempfindung, die im Gehirn entsteht, bei der der Geruch mit früheren Erinnerungen verglichen und bewertet wird, darauf folgt die Ausschüttung von Botenstoffen, die positive Gefühle auslösen. Genuss hat auch etwas mit der Fähigkeit zu Musse und Entspannung zu tun, was unsere Gesellschaft in der heutigen stressbelasteten Zeit dringend benötigt. Da verwundert es nicht, dass Essen und die damit verbundene Rückkehr zur Gastlichkeit zu einem regelrechten Megatrend geworden sind. Diese Entwicklung orten wir bei genauerem Hinschauen überall in unserer Gesellschaft. Die Jungen und Avantgarde-Künstler leben sie schon voll aus, vielleicht durch die Sehnsucht nach verlorenen Dingen wie Ruhe, Zeit und Gemeinschaft ausgelöst. Die Folge daraus ist die Suche und Rückkehr zur Gemeinschaft.
Eating designer
Ein schönes Beispiel sind die sinnlichen, herrlichen, amüsanten und hintergründigen „Ess-Happenings“ von der „Eating- Designerin“ Marije Vogelzang, die in einer Tokio Galerie bei einem Geschäftsessen ein „Eat love Dinner“ inszenierte. Sie spannte eine übergrosse Tischdecke an den vier Ecken an die Decke und schnitt Löcher hinein, so dass die Gäste Kopf und Arme durchstecken konnten. Als nur noch Köpfe und Arme zu sehen waren, entspannten sich die „förmlichen – steifen“ Geschäftsgäste, es entstand eine gelöste, fröhliche Atmosphäre, plötzlich waren alle gleich. Ebenso feierte der Designer Dries van Noten seine 50. Fashion Show 2004 mit einem festlich eingedeckten Dinner-Table als Catwalk, an welchem die Gäste zuvor bewirtet worden waren, darüber funkelten festlich-barocke Kristallleuchter. 2011 bewirtete Karl Lagerfeld während der Chanel Prêt-à-Porter Show „Paris-Bombay“ seine exklusiven Gäste an üppig geschmückten Tafeln mit silbernen Kerzenständern und opulenten Etageren voller Köstlichkeiten wie aus Tausend und einer Nacht.
The restaurant day – eine Idee aus Helsinki – setzt Trends
Ein weiteres schönes Beispiel ist die Idee von Antti Tuomola, Koch aus Helsinki, wo es im Winter nie richtig hell wird und man sich deswegen schon um 17 Uhr zum Abendessen verabredet. Er wollte 2011 zusammen mit Freunden ausprobieren, ob es machbar sei, für einen Tag in der ganzen Stadt Restaurants zu eröffnen, nach dem Motto „jeder kann sein Restaurant machen, das er schon immer haben wollte“. Der „Restaurant-Day“ war geboren! Mit einer eigenen Homepage, auf der Mitstreiter ihr Restaurant mit Adresse eintragen konnten, ging es los. Seit dem ersten „Restaurant-Day“ lässt sich nun die halbe Stadt Essen servieren. Es besteht eine unfassbare Auswahl an abenteuerlichen Gerichten, ausgefallensten Ideen für Locations, Unerwartetem und Erstaunlichem, aber auch spontaner Kommunikation. Geldverdienen steht an diesem Tag an letzter Stelle. Dieses Abenteuer zieht jedermann in seinen Bann. Neugierig und gespannt, mit Smartphone oder ausgedrucktem Restaurant-Day-Plan ausgerüstet, zieht man wie ein Schatzjäger durch Helsinki. Von der improvisierten Studentenwohnung im 4. Stock ohne Lift, dem Sternerestaurant oder dem Künstleratelier bis zur Parkbank ist alles vertreten. Auch die Auswahl der Speisen weist eine Riesenspannweite auf von vegan über Fastfood zu japanisch bis hin zu finnischer Regionalküche. Sicherlich ist auch die Neugierde, wie finnische Wohnungen aussehen, und die interessante Mischung der Gäste ein Grund für den grossen Erfolg. Das Feuer entfachte sich innert kürzester Zeit in ganz Europa und wurde zu einer weltweiten Veranstaltung, die nun in rund 100 Städten in 22 Ländern mit über 500 Pop-up- Restaurants jährlich abgehalten wird. Der perfekte Tourismus-„Q“, der keiner Werbeagentur in den Sinn gekommen ist.
Gehören Sie auch schon zu den food pornern?
Was früher ausschliesslich ein Hobby japanischer Touristen war, Essen zu knipsen, wurde zu einem Massenphänomen. Diese bizarre Verhaltensweise nennt sich „Food Porn“ und weist darauf hin, dass immer mehr Menschen, wenn sie in einem guten Restaurant essen, ihre 4-Gänge-Menüs mit dem Handy fotografieren und umgehend bei Facebook ins Netz stellen. Die Porn-Begeisterten sind inzwischen zu einer riesigen Internetuser-Community geworden, die Essverhalten in Blogs dokumentieren. Die Pinterest-Pinnwände bersten vor lauter solchen Leckereien. Es gibt Blogger, die all ihre auf Reisen gegessenen Gerichte fotografieren, um diese mit Freunden auf Facebook zu teilen, fast wie die Chronik ihres Lebens. Manche halten die Entstehung eines Gerichtes vom Kauf bis hin zum glücklichen Lächeln der Gäste bei Tisch fest. Andere bieten private Kochshows an und kochen die Lieblingsrezepte der Grossmutter vor.
Sicherlich waren die vielen TV-Kochshows Vorboten dieser gastronomischen Ausschweifungen. „Food Porn“ ist ansteckend und macht süchtig. Auch am „Food Film Festival“ in New York, bei dem der künstlerische Direktor George Motz bei der „Food Porn Party“ zunächst ein Gericht in Form eines ästhetischen Kurzfilms vorstellte und anschließend servieren liess, war dies zu entdecken. Sogar vor Apps macht dieser Trend keinen Halt. Foodfotografie klappt nun noch besser mit „Foodie Snappak“, inspiriert vom Food-Starfotografen David Loftus, wo der Look englischer Kochbücher imitiert wird. Aber es gibt natürlich noch viel mehr Auswüchse dieses Megatrends ums Essen. Ihnen sind sicherlich auch schon die ungezählten Kochworkshops für bunte Cupcakes oder selbstgegorenes Bier eingefallen, um nur zwei zu nennen.
Doch was sagt das eigentlich über unsere Zeit, unsere Welt aus? Die Lust am Blick in fremde Kochtöpfe und deren Leben? oder geht es nur um den Genuss und die Freude, schönes und gutes Essen mit anderen zu teilen? Gilt Essen als weiteres Prestigeobjekt, um sich sozial zu profilieren? Lebensmittel-Porn ist sicherlich eine verherrlichte, spektakuläre, visuelle Präsentation von Kochen und Essen in den visuellen Medien und wird dadurch vielleicht auch ein Ausgleich zum Alltag. Was auch immer die Beweggründe des Einzelnen sind, ein Teil dieses „Ess-Trendkults“ zu sein, er ist zu einem regelrechten Gesellschaftstrend geworden, der nicht mehr zu stoppen ist. Auch an die wild um sich fotografierenden Restaurantgäste haben wir uns schon gewöhnt und in naher Zukunft wird es in der gehobeneren Gastronomie ohnehin iPads statt Speisekarten geben, so dass man schon vor der Bestellung die Speisen verführerisch präsentiert sieht.
Spätestens dann sind auch Sie Food-Porner! Denn gutes Essen gibt zumindest kurzfristig dem Leben immer wieder aufs Neue einen genüsslichen Sinn. Und was hält eine Gesellschaft in all ihren Krisen besser zusammen als das Essen? Befriedigung garantiert!
Weiterführende Informationen:
www.restaurantday.org
www.chanel.com
www.marijevogelzang.nl
Der Blick in die Zukunft mit Trendforscherin Joan Billing*
* Joan Billing ist Trendforscherin und arbeitet unter anderem auch für die Trend-Ikone Li Edelkoort. Joan Billing entführt Sie als Gastautorin jeweils an dieser Stelle in die faszinierende Welt der Trends.