Wie schnell vermeintliche Normalität durch eine neue Normalität abgelöst werden kann, wurde mir in aller Deutlichkeit bewusst, als ich, kaum hatte ich mich im Lockdown eingerichtet, meine Krebsdiagnose erhielt.
Es war, als hätte es plötzlich an der Tür geklingelt. Ich kannte die Frau nicht, die unaufgefordert eintrat. Sie war gross, mit einer gewaltigen Präsenz und einer wilden Entschlossenheit. Es schien, als käme sie aus einer anderen Zeit. Da stand sie und nahm den ganzen Raum ein. Niemand hatte sie eingeladen. Und doch war sie gekommen, in ihrer Selbstverständlichkeit, um mir eine wichtige Botschaft zu überbringen: nämlich dass da etwas ganz arg im Ungleichgewicht ist bei mir und dass es unbedingt meine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert. Jetzt gleich. Das war, wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, nichts spektakulär Neues in der Aussage. Aber die Vehemenz und Deutlichkeit, die waren neu. Und überwältigend. „Ich werde nicht weggehen“, sagte sie. „So lange nicht, bis du hinschaust und es in Ordnung bringst.“ Ich wurde still. „Okay, ich höre dich, und ich sehe dich“, sagte ich. Seitdem ist sie bei mir, jede Minute und jede Sekunde. Sie ist gerade meine Normalität.
Es gab kein Drama dazu; zu keinem Zeitpunkt haderte ich mit mir oder mit meinem Schicksal. Weder dachte ich „Warum ausgerechnet ich?“ noch beschäftigte ich mich mit einem möglichen frühzeitigen Ableben. Vor allem aber bin ich nicht in den Krieg gezogen gegen den Krebs und die Tatsache, dass sich ein Tumor in meinem Körper befindet. Ich führe keinen Kampf gegen den Krebs; da will ich gar nicht hin. Es geht mir vielmehr darum, achtsam hinzuschauen und dort aufzufüllen, wo die Depots offensichtlich leer sind. Das heisst einerseits, meinem Körper jede erdenkliche Unterstützung und Entlastung zu geben, damit er seine Selbstheilungskräfte aktiviert, und gleichzeitig mein Immunsystem zu stärken, damit es seine Aufgabe wieder vollumfänglich ausüben kann. Das heisst aber insbesondere, da anzusetzen, wo mein Krebs seinen Ursprung hat: in der Psyche. Ich lerne zum Beispiel gerade, liebevoll mit mir selbst umzugehen und mich bedingungslos anzunehmen. Das fühlt sich manchmal an, als würde ich eine fremde Sprache lernen. Meine Prioritäten habe ich reduziert auf eine einzige: mich selbst. Dieses grundlegende Umdenken, mich konsequent an den Anfang meiner Liste zu setzen, fordert mich sehr. Gleichzeitig aber schafft es auch eine nie gekannte Nähe zu mir selbst, und ich weiss, dass genau dort meine Heilung stattfindet.
Natürlich blieb die Gefühlsachterbahn keineswegs aus. Natürlich hat mein Boden gebebt, und ich torkelte bisweilen orientierungslos durch den Raum. An manchen Tagen fühlte ich mich stark, mutig, ja beinahe übermütig, und es gab Tage, da flossen die Tränen gleich nach dem Aufstehen, da fühlte ich mich wie eine Schnecke ohne Haus: etwas verloren, verletzlich und schutzlos. Diese Tage gibt es immer noch, aber sie werden weniger, und ich habe sie mittlerweile angenommen als wichtigen Teil in meinem Heilungsprozess.
Meine engste Vertraute auf dieser Reise ist meine innere Stimme; sie weiss immer genau, was zu tun ist. Ich höre auf sie, denn niemand ist mir näher als meine eigene Intuition. Schritt für Schritt habe ich gelernt, sie wieder wahrzunehmen, ihr zu glauben und mich von ihr lenken zu lassen. Das erfordert manchmal Mut und ganz viel Vertrauen. So habe ich vom ersten Augenblick an die alleinige Verantwortung übernommen, für den Krebs und auch für den Heilungsprozess. Darin spüre ich Wahrheit und eine unbändige Kraft.
Ganz egal in welcher Form die Herausforderung an uns herantritt, dieser innere Kompass ist immer da und gibt uns Orientierung. Wir dürfen unserer Intuition vertrauen, für sie einstehen und ihr mutig folgen, auch wenn es manchmal unbequem ist und uns aus der Komfortzone katapultiert. Das kann mitunter zu Unverständnis im näheren Umfeld führen oder sogar Widerstand auslösen. Dennoch ist es zentral, dass wir die Verantwortung für das eigene Tun und Handeln übernehmen, denn das bewahrt uns davor, in lähmendes Opferverhalten einzutauchen. Intuition ist Weiblichkeit in ihrer ursprünglichsten Form, sie ist ein Geschenk und keine Gabe; jede von uns hat sie in die Wiege gelegt bekommen.
Mein ungebetener Gast ist immer noch in meinem Raum. Sie hat es sich inzwischen in einer Ecke gemütlich gemacht und beobachtet still, wie ich mutig vorangehe. Zwischendurch erinnert sie mich daran, dass es noch einiges zu tun gibt, bis sie wieder gehen kann, aber der Anfang ist getan, und die eingeschlagene Richtung ist die richtige. Wir kommen ganz gut klar miteinander; und wir beide wissen, dass der Tag kommen wird, an dem wir uns für immer voneinander verabschieden.
Der goldene Armreif ist mein Schutzamulett. Meine Mutter hat ihn mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt mit den Worten: „Er soll dich beschützen und dir Halt geben, wann immer du zögerst oder unsicher bist. Ich glaube, du wirst ihn gut brauchen können.“ Jedes Mal, wenn ich ihn anschaue, erfreuen mich seine perfekte Form und schlichte Schönheit; von der Seite betrachtet bildet er die liegende Acht, das Symbol der Unendlichkeit.
Ob die Zukunft unsicherer geworden ist? Ich denke nicht. Die Zukunft wird das tun, was sie schon immer getan hat: uns fordern, unsere Grenzen weiten und unsere Normalität regelmässig in ein neues Gewand schlüpfen lassen. Es ist die innere Haltung, die unsere Zukunft massgeblich mitgestaltet. Wir dürfen uns frei entscheiden, als Opfer der Umstände im Stillstand zu verharren und zu klagen oder in die Eigenverantwortung zu steigen und dort anzusetzen, wo Veränderung wirklich stattfinden kann: bei uns selbst.
Vorname, Name: Barbara Vettorel
Funktion, Firma: Owner & Founder von miraclemind Coaching
Website: www.miraclemind.ch
Wenn ihr ein Wort hättet für das Thema „Sicherheit in der Unsicherheit“, eine Farbe oder ein Bild malen könntet, was wäre das? Intuition.