Doch abwarten und Tee trinken ist wohl zurzeit nicht die schlaueste Strategie. Agile und flexible Lösungen müssen her, besser heute als morgen. Und es gibt kaum eine Branche, die nicht von den aktuellen Umwälzungen, die teilweise mit der Corona-Pandemie begonnen haben, betroffen wäre. So auch die Baubranche. Wussten Sie beispielsweise, dass Toiletten weltweit ausschliesslich mit Gasöfen produziert werden? Würde Gas tatsächlich rar, stünden auch diese Gasöfen still. Und wie viele andere Industrien klagt auch die Baubranche über einen ausgeprägten Fachkräftemangel, dem mitunter durch die Anstellung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern begegnet werden kann, denn die eigenen Reihen sind gerade hier stark ausgedünnt, gewisse Funktionen bleiben teilweise monatelang unbesetzt, erzählt uns der Geschäftsführer des Luzerner Badmöbelherstellers Talsee. Das Unternehmen gehört zu den Schweizer Traditionsbetrieben – gegründet 1896. Doch das Jahr 2022 hat es in sich, auch für Talsee.
Im Gespräch mit der Quereinsteigerin Mirca Maffi, Leiterin Marketing & Design und Geschäftsleitungsmitglied, und CEO Bruno Scherer, der das Unternehmen aus Hochdorf seit 1988 begleitet und seit der Gründung der Talsee AG vor 27 Jahren auch führt.
Ladies Drive: Mirca, wir haben uns vor Jahren kennengelernt, als du noch als Schmuckdesignerin mit eigenem Label unterwegs warst. Nun bist du seit 2019 in der Baubranche und bist also eine klassische Quereinsteigerin. Von aussen betrachtet scheint der Weg vom Schmuckdesign in die Baubranche gross – wie hast du diesen Schritt geschafft, und wie wohl fühlst du dich in dieser Branche?
Mirca Maffi: Mein roter Faden war und ist das Design, der Kreativprozess und die Produktentwicklung sowie deren Vermarktung und Integration in unternehmerisches Handeln. Das war im Kunsthandwerk so, im Marketing und Retail von Luxusgütern, im Schmuckdesign und in meiner Tätigkeit als Brand Manager bei Phonak. Und das ist auch in dieser Funktion bei Talsee nicht anders. Und klar muss man sich in eine neue Branche hineindenken und vieles lernen – aber das ist keine „mission impossible“. Es war für mich unbeschreiblich spannend, mit meinem Rucksack an Erfahrungen in die Baubranche zu kommen und neue Sichtweisen vorzubringen oder aber Vorgänge kritisch zu hinterfragen. Entsprechend kann ich als Quereinsteigerin bei Talsee mein ganzes Wissen von anderen Branchen einbringen. Natürlich gibt es in der Baubranche und speziell im Bad ganz andere Rahmenbedingungen – beim Schmuck gibt es zum Beispiel kein Siphon, keine Wasserleitungen (lacht).
Und jetzt machen wir das früher wie in der TV-Sendung „Herzblatt“ „Wir haben sie getrennt voneinander befragt.“ Bruno, du hast Mirca eingestellt. Welchen Mehrwert können Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger mitbringen?
Bruno Scherer: Wenn man wie ich seit Jahren in derselben Branche tätig ist, tendiert man dazu, Scheuklappen zu tragen. Man hat seine Art und Weise, wie man Dinge anpackt, gefunden. Man hat jahrelange Erfahrung, wie etwas funktioniert, und denkt, man weiss eigentlich alles. Und eine Quereinsteigerin, ein Quereinsteiger bringt eine andere Sichtweise an das Thema ran, und das ist ein Asset. Man kann natürlich nicht nur Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger in einem Unternehmen anstellen, es braucht selbstverständlich die erfahrenen Kräfte, die auch Beständigkeit und Fachwissen vorweisen. Aber es sind auch schlicht und ergreifend neue Fachkräfte gefragt, die man anheuern kann. Was ich beobachten kann, ist, dass es mehr Engagement von beiden Seiten braucht, wenn jemand branchenfremd ist. Und da muss man sich bewusst sein, dass dem so ist.
Spürt ihr den Fachkräftemangel?
Bruno Scherer: Ja, leider.
In welchen Bereichen ganz besonders?
Bruno Scherer: Um ehrlich zu sein: überall! In allen Bereichen, sei es in der Schreinerei, sei es bei der Montage im ausführenden Bereich, sei es in der Technik, wo wir Leute suchen, oder Produktmanagement, IT sowieso … Auch im Verkauf ist es schwierig. Es ist sehr anspruchsvoll, um das mal diplomatisch auszudrücken. Der Aufwand, den wir für die Rekrutierung betreiben müssen, ist explodiert, beispielsweise der Ressourcen, die wir intern investieren, die Aufwände, die Zeit, um gute Leute anzustellen – das verursacht in der Folge erhebliche Mehrkosten.
Wo habt ihr am meisten Engpässe, in welchen Funktionen? Und wo hat es genug Talente?
Bruno Scherer: Den grössten Engpass hatten wir bis vor Kurzem im Verkauf und in der Schreinerei. 2021 haben uns gleich mehrere Fachspezialisten verlassen – teilweise, weil sie sich weiterbilden wollten. Die konnten wir nicht ersetzen, und unter diesen Abgängen haben wir wahnsinnig gelitten. Fachspezialisten kannst du nicht mit temporären Angestellten ersetzen – das spürst du sonst in der Qualität.
Woran liegt das? Wie erklärt ihr euch die Gründe dieses Fachkräftemangels?
Mirca Maffi: Ich glaube, in unserer Branche sind diese Umstände nicht Pandemie-bedingt wie bei den Fluggesellschaften oder in der Gastro. Die Ursachen dieser Probleme liegen weiter zurück. Wir sehen beispielsweise bei den Auszubildenden in Handwerksberufen, dass die Klassen ständig kleiner werden. Das liegt wahrscheinlich daran, dass heute mehr Jugendliche als früher ein Studium in Angriff nehmen. Zudem hatte der Handwerksberuf früher womöglich auch eine andere gesellschaftliche Stellung. Hinzu kommt bei uns, dass wir nicht nur gute Verkäufer brauchen oder gute Leute in der IT – es ist auch spezifisches Fachwissen nötig, das sie entweder mitbringen oder neu erlernen müssen. Diese Kombination stellt eine weitere Herausforderung dar.
Bruno Scherer: Ein weiterer Grund ist der Wirtschaftsboom. Wenn es bei allen Unternehmen gut läuft, wird die Personaldecke aufgestockt. Wenn wir die ganze Situation volkswirtschaftlich und gesellschaftlich betrachten, ist eine unserer grossen Herausforderungen die, genügend junge Menschen dazu zu bringen, sich beständig weiterbilden zu wollen und zu können. Ich denke, man kann nie genug Menschen gut ausbilden. Wir benötigen schlicht und ergreifend gut ausgebildete Talente, die bereit sind, immer wieder aufs Neue dazuzulernen.
Mirca Maffi: Vielleicht müsste man von Anfang an Stellen ausschreiben, in denen man nicht nur jemanden für eine bestimmte Position mit einem gewissen Fachwissen sucht, sondern von Beginn an auch klarstellen, dass man als Arbeitgeber Weiterbildungen unterstützt und eine entsprechende Zukunftsperspektive fördert. Wir konnten schon einige Positionen mit internen Mitarbeitenden besetzen – vom Schreiner in den Innendienst oder ins Produktmanagement. Gerade als KMU brauchst du Menschen, die sich auch innerhalb des Unternehmens weiterentwickeln können.
Was ist in eurer Branche, bei Talsee, die grösste Challenge im Moment? Abgesehen von den Fachkräften?
Bruno Scherer: Der Rohstoff- und Komponentenmangel treibt uns um. Heute haben wir noch keine Probleme, unsere Produkte fertiggestellt zu bekommen. Dass das so bleibt, hoffen wir und tun das Möglichste dafür. Die Preisexplosion, die sich in der Beschaffung daraus ergibt, ist extrem.
Wir sehen es auch beim Papier für unser Printmagazin. Wir hatten bis zu 100 Prozent Preisaufschlag. Das ist etwas, das wir nicht einfach an unsere Leserinnen und Leser weitergeben können.
Bruno Scherer: Absolut. Hinzu kommt ja auch noch ein nicht erheblicher Mehraufwand, beispielsweise bei der Beschaffung. Oder bei der Lagerbewirtschaftung: Letztes Jahr wollten wir das Lager um 10 Prozent reduzieren – und Ende 2021 hatten wir 80 Prozent mehr Lagerbestand, weil wir einfach sichergehen wollten, dass wir immer liefern können und in keinen Engpass reinlaufen.
Gibt es Rohstoffe, bei denen ihr heute schon ahnt, dass es in Bälde eng werden könnte?
Bruno Scherer: Eher indirekt. Denken Sie mal an den viel zitierten Gasmangel. Wenn der Gashahn abgedreht wird, dann gibt es morgen keine Toilettenschüsseln und Keramikwaschtische mehr. Dann wird morgen kein einziges WC mehr produziert, einfach keines.
Weil die alle mit Gas gebrannt werden. Oder auch Spanplatten. Die Spanplattenwerke laufen nur teilweise mit Öl. Aber ein Brennofen, in dem man Toiletten oder andere Keramikteile brennt, wird mit Gas betrieben. Überall. Wir haben grundsätzlich alternative Materialien zur Verfügung – zum Beispiel Mineralwerkstoffe. Aber sollte das Gas knapp werden, kriegen wir das alle zu spüren.
Wie versucht ihr dem Ganzen zu begegnen – zum Beispiel mit Innovationen, neuen Materialien? Arbeitet ihr bei Talsee an so etwas im Moment?
Mirca Maffi: Materialien sind bei uns immer ein wichtiges Thema. Entsprechend sind wir unentwegt dabei, Produktalternativen zu recherchieren, mit denen wir auch Themen wie Kreislaufwirtschaft abdecken können. Aber das ist nicht ganz so trivial. Häufig finden wir neue Materialien, die aber nicht so stabil sind, wie wir es brauchen, in zu wenig grossen Mengen verfügbar oder schlicht zu teuer sind. Meiner Meinung nach sollte eine Innovation nicht per se teuer sein, sondern vor allem richtig gut. Gerade in unserer Branche sind alle Unternehmen enorm gefordert, für eine langanhaltende Zukunft zu bauen.
Bruno Scherer: Wir stützen uns bei den Materialien und Komponenten mittlerweile immer diverser ab. Wir haben beispielsweise ein sehr breites Sortiment an Spiegeln und Spiegelschränken mit unterschiedlichsten Leuchten respektive Leuchtmitteln, damit wir bezüglich Elektronik nicht nur von einem Hersteller in Fernost abhängig sind. Das ist ein enormer Mehraufwand, den wir leisten müssen – denn wir sind gefordert, mehrere Lieferanten am Start zu haben, sollte einer tatsächlich mal in einen Engpass reinrutschen. Wenn du dann nicht ausweichen kannst, bist du wirklich aufgeschmissen. Und das hat sich deutlich verändert – früher war immer alles sofort verfügbar. Dem ist heute nicht mehr so.
Habt ihr eure Produktpreise entsprechend angehoben, oder plant ihr das?
Bruno Scherer: Wir haben sie zu wenig angehoben (lacht) – eindeutig. Wir waren zu optimistisch, dass die Preisexplosion nicht so schnell und nicht so stark kommt und sich nivelliert oder gar zurückgeht. Und dann hat uns im Frühjahr natürlich auch noch der Ukraine-Krieg zu schaffen gemacht. Das heisst: Wir werden noch einmal im vernünftigen Rahmen unsere Preise nach oben korrigieren.
Um wie viel Prozent?
Bruno Scherer: Wir haben in der Schweiz letzten Herbst 4% erhöht – und per 1. Juli noch mal 4,8 Prozent, aber es war leider zu wenig. Wir werden das wahrscheinlich am Ergebnis sehen, da wir einen Teil dieser Mehrkosten somit selbst stemmen müssen.
Gerade bei grossen Immobilienvorhaben wird ein Projekt unter Umständen gar nicht mehr bezahlbar, weil es sich auf so vielen Ebenen verteuert … Was hört ihr aus der Branche?
Bruno Scherer: Solche Beispiele gibt es leider. Ich würde jetzt nicht sagen, dass das gross Schule macht, aber es kann natürlich schon hie und da Bremsspuren verursachen. Man muss auch sehen, dass in unserer Branche dank des Baubooms der letzten zwei Jahre absolut Goldgräberstimmung herrschte. Von diesem Umstand haben auch wir bei Talsee profitiert – wir hoffen nun, dass wir nicht schon bald das Gegenteil erleben werden. Das Problem bei Grossprojekten ist, dass Bauherren und Investoren versuchen könnten, die Preissteigerung über günstigere Produkte auszugleichen – was allerdings langfristig desaströs wäre und auch nicht im Sinne der Nachhaltigkeit, der wir uns verpflichtet sehen. Die Herausforderung dürfte sein, dass wir dennoch weiterhin hochwertig und mit Blick auf Nachhaltigkeit bauen, auch wenn das bedeutet, dass wir im Moment etwas tiefer in die Tasche greifen müssen. Langfristig betrachtet wird ein Bauprojekt ansonsten nicht günstiger, sondern teurer.
Wir leben in einer Zeit, in der es unruhiger und unsicherer nicht sein könnte. Bruno, jetzt bist du aber immerhin der Chef, der dieses Traditionsunternehmen wieder in einen sicheren Hafen manövrieren muss. Wie schafft man das, als Leader Klarheit, Sicherheit für dich, aber auch für die Firma zu erschaffen?
Bruno Scherer: Je mehr Variablen unsicher sind, desto wichtiger ist es, dass du eine klare und langfristige Strategie hast, dass du also weisst, wo das Ganze hinführen soll. Wir haben beispielsweise eine ganz klare Wachstumsstrategie: Wir haben definiert, wie wir das erreichen wollen und wie wir des Weiteren Talsee als internationalen Designbrand stärken können. Auf dem Weg dahin kann es die bisher diskutierten Herausforderungen geben – da musst du als Leader quasi drumrumsteuern, bist aber gefordert, dein langfristiges Ziel dennoch im Fokus zu behalten. Und dann braucht man manchmal auch ein gewisses Urvertrauen und den Mut, Ruhe zu bewahren. Mein Glück ist, dass ich schon so viele Jahre dabei bin und in dieser Zeit schon so einige Stürme erlebt habe. Nach einem Tief kommt auch wieder ein Hoch. Darauf vertraue ich.
Dein Tipp an andere Führungskräfte und Leaderinnen sowie Leader wäre dann entsprechend, dass man sich nicht allzu sehr von den ganzen schlechten News ins Bockshorn jagen lässt?
Bruno Scherer: Ja, genau. Zurückerinnern, dass man es auch durch andere Krisen geschafft hat, in denen man auch dachte, dass man das nicht heil überstehen möge. Mein Motto ist also nicht „Kopf runter und stur weiter rennen“, sondern „Kopf hochhalten und mit weniger Tempo nach vorne blicken“.
Mirca Maffi: Das ist ein superschönes Bild. Es ist, wie wenn du mit Google Maps unterwegs bist und es heisst, „vorne links abbiegen“, aber da wurde mittlerweile ein Kreisel gebaut – dann kannst du auch nicht einfach über den Kreisel brettern, sondern musst dich auf die neuen Gegebenheiten einlassen.
Lasst uns den Beginn des Gesprächs noch mal aufgreifen bezüglich Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern, damit wir den Kreis schliessen können. Könnte mehr Diversität in der Baubranche nicht nur helfen, dem Fachkräftemangel ein Stück weit zu begegnen und innovativere Lösungen zu finden? Und mit mehr Diversität meine ich nicht nur, aber auch: die Frauen.
Bruno Scherer: Das könnte tatsächlich sehr viel bewegen! Die Baubranche ist in Teilen von Männern aufgebaut und auch von der Workforce her eine Männerdomäne. Eine andere Art und Weise zu denken kann dabei helfen, auch die Kultur des Miteinanders zu verändern. Auf den Baustellen geht das vereinzelt schon sehr machomässig zu und her. Wenn Frauen dabei sind, ändert sich das. Und das Resultat wird unter dem Strich garantiert besser sein. Wir sehen das auch, seit Mirca bei uns tätig ist – das andere Denken, die Intuition und das Engagement helfen uns, zu besseren und neuen Lösungen zu gelangen.