Hauptsache, sie ist bald in Sicherheit und die Kinder sind es auch. Er hole sie ab, sobald der „Scheisskrieg“ vorbei ist, ganz sicher, ganz bald. Sie habe doch schon immer eine Europareise machen wollen, was weine sie denn jetzt – er versucht witzig zu sein. „Ja schon, doch nicht so!“ – erwidert sie lächelnd und zeigt auf die grosse Packung Windeln, für die es im Koffer keinen Platz gab. Im nächsten Moment werden sie beide auf einmal ernst. Warum steht bloss der Zug immer noch. Onkel Sawwa schaut sich unruhig um. Minuten und Sekunden des Wartens, die einen noch mehr verzweifeln lassen. Olena möchte winken und zeigen, dass die beiden jetzt doch gehen sollen. In diesem Moment wird der Buggy von einem vorbeifahrenden Koffer berührt, das Kleine erschrickt und beginnt zu weinen. Das Abteil in ihrem Waggon ist inzwischen voll, zwei weitere Frauen mit Kindern sitzen Olena gegenüber. Der Zug fährt endlich los. Nun sind sie sechs Kinder, drei Frauen, zwei Kinderwagen und drei Koffer – gemeinsam auf einem Weg, auf dem im Gegensatz zu aller Logik des Reisens nicht das „WOHIN“, sondern einzig das „WOHER“ wichtig ist.
Marina hat die Tickets extra so gebucht, dass sie an ihre Dienstreise noch ein paar entspannte Tage in Kiew dranhängen kann. Für den 24. Februar waren noch ein Meeting und ein Interview geplant, der Wecker stand auf 7 Uhr, um vor den Terminen noch ein paar E-Mails zu beantworten. In den frühen Morgenstunden jenes Donnerstags wurde sie von Sirenen wach, laute Sirenen ertönten anstelle des Weckers. Schnell zog sie den Jogginganzug und ihre Winterjacke an, nahm das Handy mit und rannte zur Hotellobby. Ist das alles überhaupt wahr? Von unterwegs blickte sie kurz auf die News. Verrückt, nein, das kann nicht sein. Doch, das ist es. Von der Lobby aus wurden die Hotelgäste in den Schutzkeller gebracht, Frühstück gab es an dem Tag recht spät. Nur fünfzehn Gäste im ganzen Hotel. Sie haben sich alle bereits im Schutzkeller kennen gelernt, es wäre nun unvorstellbar, allein an ihrem Frühstückstisch zu sitzen. Marina setzte sich zur Familie mit einem kleinen Kind, zusammen haben sie im Schutzkeller den ganzen Morgen verbracht. Es wurde viel gesprochen. Man schreibt auf den Newsportalen, der Krieg habe angefangen, Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Sie tauschten sich aus. In russischen Medien kein Wort über den Krieg, anstelle dessen wird am Rande über eine „Sonderoperation“ in Donezk und Luhansk berichtet. Das Internet füllt sich mit Bildern, manche sind unglaubhaft, surreal.
In Marinas Gedächtnis werden Bilder aus den Schuljahren wachgerufen: der Geschichtsunterricht, das Thema ist der zweite Weltkrieg, und die Lehrerin spielt die Tonbandaufnahme mit der Stimme eines sowjetischen Nachrichtensprechers ab, der am 22. Juni 1941 die Nachricht über den Krieg herüber bringt: „Achtung! … Wir verbreiten eine wichtige Regierungserklärung: Bürger und Bürgerinnen der Sowjetunion! Heute haben um 4 Uhr morgens die deutschen Streitkräfte, ohne jegliche Kriegserklärung, die Grenzen der Sowjetunion angegriffen. Der Grosse Vaterländische Krieg des Sowjetvolks gegen die deutschen Eroberer hat begonnen. Unsere Sache ist gerecht, der Feind wird zerschlagen. Der Sieg wird unser sein!“ Nachrichten und Ankündigungen werden gegenseitig vorgelesen, Bilder und Videos geschickt, weitergeleitet. Wie die zum Leben erwachten Szenen aus den Kriegsfilmen. Familienchats sind zu Kriegschats geworden. Wo bist du? Bist du in Sicherheit? Der Krieg, der Krieg ist ausgebrochen. Russland hat die Ukraine um 4 Uhr morgens angegriffen. Was wird jetzt kommen? Was nun? Wann und wie fährst du weg? Werden wir evakuiert? Marina rief ihre Mutter in Moskau an. Sie solle nicht in Panik geraten, das wäre bestimmt eine ukrainische Provokation, sagte die Mutter zu ihr, war ja abzusehen, dass sie das tun. „Mama, du verstehst nicht, hier ist der Krieg!“ schrie Marina. Sie legte auf.
Anna sortiert ihre Sachen. Alles aus dem Schrank auf den Boden, das eine oder andere probiert sie nochmals vorm Spiegel an. Auch das Snowboardequipment sowie zwei Kisten mit Riesenpuzzles, die Letzteren sammelt sie. Eigentlich muss sie nun aus allem zwei Stapel machen: Sachen für ihre Cousine und für ihre Mutter. Just in case. Das hat ihr Darina empfohlen, die sie erst vor ein paar Wochen im Vorbereitungskurs für Zivilisten kennen gelernt hat und mit der sie sich sehr angefreundet haben. „Aber natürlich muss du auch ein Testament machen, ohne das geht es nicht“, sagte ihre 29-jährige Freundin, die sich bereits vor einigen Jahren für die Kampfeinheit gegen die aufständischen Separatisten angemeldet hat. „Du willst doch nicht, dass sich alle danach um dein Zeug streiten. Wenn etwas wäre. Auch einen Brief musst du an deine Familie schreiben. Es gibt eine Checkliste, an was man alles denken soll, ich schicke dir den Link. Man muss an alles denken, weisst du.“ Der Krieg verändert alles, dachte Anna. Und auch sie will nicht nur im Krankenhaus sein, wenn es zum Krieg kommt. Sie hat sich daher für einen Kurs angemeldet. Wenn ihre Heimat tatsächlich angegriffen wird, will Anna nicht nur an der „medizinischen Front“ ihren Dienst leisten. Der Gedanke, sie würde ihr Land verteidigen, und zwar kämpfend an der Front und nicht als eine Krankenschwester (was eigentlich ihr Beruf war), beschäftigte Anna seit langem. Inzwischen hat sie durch Darina auch weitere Frauen kennen gelernt, die seit 2014 den ukrainischen Kampfeinheiten beigetreten sind. Von der Gesellschaft werden diese Frauen immer noch nicht ganz akzeptiert, sie werden als etwas Exotisches in den Medien dargestellt, der Grossteil wundert sich über sie und teilt die Ansicht, dass Frauen im Krieg nichts verloren hätten. Anna ist das egal, sie hat beschlossen und der Familie beigebracht, dass das für sie das Richtige ist. Ihr Papa ist stolz auf sie, und die Mutter fängt auch nicht mehr an zu weinen, wenn es zum Thema aufkommt.
„Ich wünschte, ich könnte ein Buch über den Krieg schreiben, solch ein Buch, dass allein der Gedanke an den Krieg einen Würgereiz auslösen würde, richtig ekelhaft wäre. Ein Wahnsinn wäre. Dass selbst die Generäle angewidert wären…“ – schrieb in ihrem Roman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ die weissrussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Sie hat mehrere hundert Frauen interviewt, die im zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, und einen Atlas der menschlichen Tragödie zusammengeschrieben. Durchdrungen von Hunger, Gewalt, Angst, Tod, Neid, Abschied, Scham, Konformismus, Lügen, Erniedrigung. Während des Kriegs und auch nach dem Krieg. Geschildert von Pilotinnen und Krankenschwestern, Scharfschützinnen und Köchinnen, Partisaninnen und Wäscherinnen. Es waren ganz andere Geschichten über den Krieg, ohne pathetischen Kriegsethos.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat das Thema Krieg auf die weltweite Tagesordnung gesetzt. Wir Europäer sind aus unserem Dämmerschlaf aufgewacht – der Krieg findet nun in unserem Nachbarland bzw. in kürzester Distanz statt. In vielen Teilen der Welt gehörte und gehören die Kriege leider zum Alltag, aber Europa befand sich bisher, abgesehen von den Jugoslawienkriegen in den 1990-er Jahren, in der historisch fast einmaligen Lage einer längeren Friedensperiode. Der 24. Februar 2022 hat dem ein Ende gesetzt. Zusammen mit Berichten zum Kriegsverlauf tauchen in den letzten Tagen auch erste Berichte zu Kriegsverbrechen, unter anderem auch zu Vergewaltigungen, auf. Opfer sind meist die Angehörigen der Zivilbevölkerung, insbesondere Frauen, denen in den vergangenen Kriegen des 20. Jahrhunderts mehrheitlich drei Rollen zugeteilt waren.
Zu einem waren sie die s.g. Kompensationskräfte für die im Krieg gebundene Arbeitskraft, die Aufbauhelferinnen in einer Zeit, in der die Männer gefallen oder in Gefangenschaft waren. Sie waren aber auch trauernde Mütter, Ehefrauen, Schwestern und Töchter, die den Verlust ihrer Kinder, besonders ihrer Söhne sowie ihrer Ehemänner, Brüder und Väter beklagen mussten. Zuletzt und zentral waren sie aber auch Objekte im Rahmen einer Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung. Menschliche Trophäen, die schlimmste Verbrechen erdulden und das Erlebte schweigend ein Leben lang mit sich herumtragen mussten. Eine Geschichte, die nicht in das pathetische patriotische Kriegsnarrativ passte und an derer kollektiven Aufarbeitung die Gesellschaften oft nicht interessiert waren. Bereits in der Haager Landkriegsordnung von 1900 ist der Grundsatz des humanitären Völkerrechts verankert, der besagt, dass Zivilpersonen und zivile Einrichtung zu schonen sind. Ein Anspruch, der oft weit weg von der Realität eines Krieges bleibt.
Die Ereignisse in der Ukraine machen aktuell wenig Hoffnung auf ein baldiges Ende, im Gegenteil lassen sie einen längerfristigen und auch asymmetrisch geführten Krieg befürchten. Den Ukrainerinnen ist aber in diesem Krieg nicht nur die Rolle der passiven Objekte zugeteilt. Sie stehen in einer langen Tradition von osteuropäischer weiblicher Emanzipation, die bis in den zweiten Weltkrieg zurückreicht, und sich durch fast 1 Mio. Frauen auszeichnet, die in den Reihen der Roten Armee gedient haben. Im Falle der Ukraine übernehmen sie auch heute aktiv Verantwortung für die Verteidigung ihres Landes und ihrer Familien. Sie machen aktuell schon bis zu 15% der ukrainischen Armee aus und es ist zu erwarten, dass dieser Anteil noch steigt bzw. dass sich viele Frauen an der zivilen Verteidigung ihrer Städte beteiligen werden. Und weil im Krieg die Strategie und das Management des zivilen Lebens für die Zukunft und fürs Überleben entscheidend sind, haben sich die Frauen in der Ukraine in tausenden Gruppen und Chats organisiert und vermitteln humanitäre Hilfe, Medikamente, Transporte, bringen wichtige Informationen an die Adressaten. Sie muntern sich gegenseitig auf, schicken einander Bilder, Videos, Lieder, Mems – „sharing is caring“ ist hier zentral. „Wie war der Morgen?“ – „ Alle am Leben, alles gut“. „Gott sei Dank.“ – „Kennst du jemanden in Charkiv? Sie suchen da einen Arzt, der operieren kann.“ – „Ich hake nach.“ – „Slawa Ukraine!“.
Die Frauen appellieren an die Vernunft der Frauen des Gegners und flehen die russischen Frauen an, nicht zuzulassen, dass ihre Söhne und Ehemänner in die Ukraine geschickt werden. Auf einer innert zwei Tagen aufgesetzten Internetseite führen sie ein Verzeichnis der verstorbenen, gefangenen und verwundeten russischen Soldaten und helfen den Müttern in Russland, ihre Söhne zu finden, falls sich diese auf einmal nicht mehr melden und der Verdacht aufkommt, dass sie mit ihrer Einheit in der Ukraine versetzt sein können. Die zuständigen Behörden in Russland vertrösten auf Informationen irgendwann in der nahen Zukunft.
Den internationalen Frauentag am 8. März feiert man in der Ukraine und in Russland ähnlich. Frauen werden Blumen geschenkt, Postkarten und Geschenke werden überreicht. Frauen werden gefeiert – zu Hause, im Freundeskreis, auf der Arbeit. Gleichzeitig symbolisiert der 8. März den Frühlingsstart, der den langen grauen Winter nun definitiv beendet.
„Ein weiblicher Krieg hat seine eigenen Farben, seine eigenen Düfte, sein eigenes Licht und seinen eigenen Raum der Gefühle. Seine eigenen Worte. Es gibt keine Helden oder unglaubliche Leistungen, sondern nur Menschen, die unmenschliche menschliche Anstrengungen unternehmen.“ Swetlana Alexijewitsch möchte man zustimmen: Die Zeit der unmenschlichen menschlichen Anstrengungen soll beendet werden. Der Krieg soll aufhören. Für Olena, für Marina, für Anna, für alle.
Die Autorin hat drei Frauen porträtiert, deren Leben der Krieg radikal geändert hat. Die Namen wurden auf Wunsch der Frauen geändert.
Olena und ihre zwei Kinder sind inzwischen in der Schweiz angekommen. Für sie, Matweij und Violetta wurde eine kleine Wohnung organisiert, die Gemeinde und Vertreter der ukrainischen Diaspora kümmern sich um die Einrichtung und das Equipment für die Kinder.
Marina hat beschlossen, in Kiew zu bleiben, auch wenn sie die russische Staatsangehörigkeit hat. Sie ist in Russland medial bekannt und nutzt ihre Kanäle, um die russische Bevölkerung über den Krieg aufzuklären und das zu zeigen, was in russischen Medien, welche den Krieg immer noch als eine „militärische Sonderoperation“ nennen, nicht gezeigt wird. Für ihre Aussagen droht ihr in Russland eine Strafe bis zu 15 Jahren Haft.
Anna ist nur selten online und hat mit ihrer Einheit den dritten Standort seit dem Beginn des Kriegs. Wenn sie sich meldet, dann mit einem lustigen Bild oder einem Spruch. Heute kam von ihr eine Karte mit der Gratulation zum 8. März. Das Gelb der Sonnenblumen und das Blau des Himmels, mit der Überschrift „Ich wünsche den friedlichen Himmel und all die Blumen zu Füssen unserer tollen Frauen“. Unten auf der Karte steht „Ukrainian women are brave and strong, but need your support“.
Text & Foto: Dr. Gulnaz Partschefeld (Leiterin Events Office Universität St.Gallen)
Weitere Informationen zur Autorin: https://www.linkedin.com/in/gulnazpartschefeld/
Wer helfen möchte kann sich Ladies Drive anschliessen und dieses Projekt unterstützen. Die Gründerinnen helfen Frauen in Kriegsgebieten und schaffen es, die Hilfe auch ankommen zu lassen. http://www.footageproject.org/